Leseprobe aus „Bruderküsse“

München, Eröffnung der Olympischen Sommerspiele, 26. August 1972

Auf der Eintrittskarte glich Rimas die Reihe ab und stieg an Männern in vornehmen Anzügen und ihren aufgeputzten Frauen vorbei die Stufen hinab. Am Ende der Sitzreihe angelangt zählte er die Nummern. Demnach musste sich sein Platz ganz außen befinden. In seinen Knien spürte Rimas die Anspannung, als er an den Zuschauern vorbeischritt. Würde er Gisela hier antreffen? Verborgen hinter der Sonnenbrille musterte er die Gesichter der lokalen Würdenträger. Trotz der Hitze trugen einige Männer Lodenjanker mit Stehkragen und die landestypischen grünen Hüte mit Adlerfedern oder üppigem Gamsbart. Bei dem Gedanken, in dieser Postkartenmontur stecken zu müssen, bekam Rimas einen Schweißausbruch.
»Darum betone ich immer wieder, dass Willy Brandts Kniefall in Warschau eine Geste der Versöhnung war, und keineswegs ein Verrat an deutschen Interessen.« Diese entschiedene Frauenstimme erkannte er sofort wieder. »Der Friedensnobelpreis bestätigt den Kurs des Bundeskanzlers …«
Sie hatte sich überwunden, die Eröffnung mitanzusehen. Obwohl sie ihr Gesicht hinter einer großen Sonnenbrille verborgen hatte, beugte sich Gisela über eine andere junge Frau hinweg zu ihrem Nebenmann. Ihr auftoupiertes langes Haar glänzte in der Sonne wie flüssige Schokolade, das Licht spielte mit goldenen Reflexen. Sie trug ein knappes Dirndl, dessen kräftige Rottöne zu ihrer Haarfarbe passten. Als Rimas vor ihr stand und sie stumm lächelnd aufforderte, sie möge ihr Bein von dem anderen herabgleiten lassen, damit er vorbeikam, unterbrach sie ihren Wortschwall. Hinter bernsteinfarbenen Gläsern schimmerte ein Paar großer, dunkler Augen. Die Brille verbarg, dass sie sich trotz ihres leidenschaftlichen Plädoyers unwohl fühlte. Rimas bewunderte ihre trotzige Entschlossenheit, mit der sie an ihren Plänen festgehalten hatte. Hektisch nahm Gisela ihre Handtasche zu sich.
»Entschuldigen Sie bitte, das ist Ihr Platz«, sagte sie.
»Nicht der Rede wert«, entgegnete Rimas, setzte sich und nahm die Sonnenbrille ab.
»Stört es Sie, wenn ich rauche?«, fragte sie, ließ eine Roth-Händle aus der Packung zwischen ihre Finger gleiten. »Die Eröffnung geht nämlich bald los.«
Musste es sein, dass ausgerechnet seine Zielperson diesem Laster frönte? Nichts konnte so schön sein, ohne dass ein Haken daran war.
»Nein, keineswegs«, entgegnete Rimas höflich. Behutsam löste er das Feuerzeug aus Giselas Hand. »Gestatten Sie?« Mit dem Daumen strich er das Rädchen herab, führte die Flamme an die Zigarette. Dabei sah er durch die getönte Brille hindurch in ihre Augen.
»Danke«, sagte Gisela. Erneut berührten sich ihre Finger, als sie das Feuerzeug von Rimas entgegennahm. Sie zog kräftig an ihrer filterlosen Zigarette, blies den Rauch aus. Ihre vollen Lippen kräuselten sich zu einem zurückhaltenden Lächeln, als sie fragte: »Ihrem Akzent nach stammen Sie nicht von hier. Woher kommen Sie?«
»Aus dem Land Carl Gustavs«, antwortete Rimas halbernst.
»Ah, Sie sind Schwede«, bemerkte ihre Freundin begeistert.
Bei Gisela hoben sich die Bögen ihrer Brauen und sie wandte ihm das Gesicht zu. »Sind Sie eigens wegen der Spiele nach München gereist?«, fragte sie.
Der Qualm kribbelte in seiner Nase, er rieb sie. »Ja und nein«, erklärte er. »Ich bin Journalist und arbeite für das Göteborger Aftonbladet. Allerdings ist mein Auftrag in München zu Ende. Ab September berichte ich aus Bonn und ziehe dorthin.«
»Wie Sie das sagen! So voll unterschwelligem Humor«, sprudelte es aus Gisela heraus. Endlich taute sie auf und die finstere Miene fiel von ihren makellosen Gesichtszügen. »Bonn? Dort arbeite ich und habe eine Wohnung.«
»Tatsächlich?«, entgegnete Rimas, beugte sich leicht vor.
»Ja, welch ein Zufall«, lachte sie, betrachtete ihn.
Bevor sie weiterfragte, bot er ihr an: »Wenn die Eröffnung gleich beginnt und wir in der Hitze dasitzen, darf ich Ihnen etwas zu trinken spendieren? Eine Cola oder lieber einen Sekt?«
»Hm«, erwog Gisela unschlüssig. Dass sich Frauen mit Entscheidungen oft so schwertaten … »Vielleicht lieber ein Wasser? Erika, was nimmst du?«
Rimas richtete sich auf, stemmte die Arme in die Seiten. »Wie wäre es mit beidem? Sekt und Wasser?«
»Hm …« Verlegen kichernd sahen die beiden Frauen einander an.
»Nicht so bescheiden, ich kann Ihnen bringen, was Sie möchten.«
»Dann nehme ich eben beides«, gab sie sich geschlagen.
Nochmals lief Rimas an der Reihe vorbei. Bei den freundlichen Hostessen am Stand angekommen gab Rimas seine Bestellung auf. Das Tablett mit Sekt und Wasser balancierend kehrte er zu Gisela und ihrer Freundin zurück. In dem Moment, als Rimas ihr den Sekt reichte, erklangen feierliche Fanfarentöne aus den Lautsprechern.
»Bitte sehr, meine Damen«, sagte er und prostete ihr zu. Aus Gewohnheit sah er ihr tief in die Augen oder versuchte, ihre Blicke zu ergründen. »Wie lautet eigentlich Ihr Name?«
»Ich bin Erika«, stellte sich die Freundin vor, flirtete sofort mit ihm.
»Gisela. Gisela Seydel. Wie heißen Sie?«
»Ville Magnus Holmberg«, sagte er. »Oder einfach nur Ville. Zum Wohl, oder auf Schwedisch: Skol
»Prost«, erwiderte sie den Trinkspruch.

Nicht die einzige Romanze bei der Olympiade 1972: Rimas/Ville und Gisa


Unvermittelt schob sie ihre Sonnenbrille ins Haar und sah Rimas offen an. Mehr wie ein neugieriges Kind als wie jemand, der auf einen Flirt aus war. Obwohl Gisela ihm zulächelte, verrieten ihre Augen, dass sie innerlich zwischen Tränen und Wut schwankte. Noch schien sie mental nicht frei zu sein, und Rimas überdachte seine Taktik neu. Zuerst sollte sie ihn als einen Bekannten betrachten, dann als einen Vertrauten … Hoffentlich erweckte er bei Erika keine falschen Erwartungen.
Rimas drehte sein Glas in der Hand und sah dem Einzug der Mannschaften zu. Die Athleten winkten in die Reihen, was die Zuschauer mit Applaus und Jubel erwiderten.
»Mit in der britischen Mannschaft als Dressurreiterin, Prinzessin Margaret!«, rief der Kommentator durch den Stadionlautsprecher.
Indien, Irland, Jugoslawien. Nation für Nation wurde aufgerufen. Als Rimas die rote Flagge entdeckte, straffte er stolz die Schultern. Die sowjetische Mannschaft marschierte ein. Er versuchte, sich nicht zu sehr anmerken zu lassen, dass ihn der Anblick seiner Olympiamannschaft bewegte.
»Sehen Sie, jetzt marschieren die Schweden«, bemerkte Gisela, bevor der Sprecher es verkündete.
Rimas exte den letzten Schluck, fing Giselas Blick aus dem Augenwinkel auf. »Ja«, bestätigte er mit gesteigertem Enthusiasmus.
Der Sekt und die warmen Temperaturen machten ihn schläfrig. Bevor sein Geist träge dahindümpelte, wandte er sich beiläufig an Gisela: »Wie kommen Sie zu einem Platz auf der Ehrentribüne? Haben Sie eine öffentliche Funktion inne?«
Sie schüttelte den Kopf und atmete tief durch. »Ich habe über die Fraktion eine Karte bekommen«, antwortete sie.
»Aha. Ich hatte gedacht, da Sie wohl in politischen Kreisen unterwegs sind, dass Sie mit wichtigen Menschen zu tun haben und welche hier kennen«, sagte Rimas.
»Ich bin bei der Bundestagsfraktion der Sozialdemokratischen Partei angestellt und treffe hin und wieder wichtige Menschen«, entgegnete sie augenzwinkernd, schwenkte ihren schalen Sektrest und wandte ihren Blick auf die Rasenfläche, wo eine Trachtengruppe ihren Tanz vorführte. »Gerne kann ich Ihnen ein paar Interviews vermitteln, wenn Sie möchten.«
Innerlich frohlockte Rimas, sah zu, wie sich unten auf dem Feld die Tänzerinnen in schnellen Schritten drehten. Ihre schwarzen Röcke wirbelten dabei wie Kreisel. Die erste Kontaktaufnahme mit Gisela war ihm gelungen. Erika verzog leicht den Mund und blickte gelangweilt drein. Offenbar hatte sie begriffen, dass er nicht an ihr interessiert war.
»Würden Sie das tun?«, entgegnete er und fing Giselas bekräftigendes Nicken auf. »Vielen Dank. Doch leider habe ich keine Karte bei mir. Sobald ich welche mit meiner neuen Bonner Telefonnummer erhalte, würde ich sie Ihnen zukommen lassen.«
»Sie wissen, wo Sie mich antreffen?«, entgegnete sie.
»Auf jeden Fall«, versicherte Rimas. »Sobald mich meine Zeitung zur Berichterstattung in den Bundestag schickt, werde ich Sie aufsuchen, Fräulein Seydel, und wir setzen unsere Konversation einfach fort.«
Was für ein bezauberndes Lächeln. Endlich strahlten ihre Augen, ungetrübt von ihrem Kummer. »Ich würde mich sehr freuen.«

Aus dem Kapitel „Age of Aquarius/Let the Sunshine in“

Eine der größten Politaffären der Nachkriegszeit, eingebettet in rasante Action, geheime Intrigen sowie einer leidenschaftlichen wie gefährlichen Ost-West-Liebesgeschichte.
Ab 05. April 2024 überall im Buchhandel und als Ebook erhältlich: Der Spionageroman „Bruderküsse“

Und davon handelt Bruderküsse:

Bonn 1972: Ein schillerndes Spielfeld der Macht und der Verführung, der Täuschung und des Verrats.

Nach einem rigorosen Einsatz gegen Dissidenten in seiner Heimat Litauen wird der junge, charismatische KGB-Offizier Rimas Rutkus in die Bundesrepublik eingeschleust. Sein Auftrag: Unter der falschen Identität eines schwedischen Journalisten soll er sich über Gisela, einer Mitarbeiterin in Bundeskanzler Brandts Wahlkampfteam, Zugang zu den Bonner Regierungskreisen verschaffen. In Zeiten einer neuen Ostpolitik hat Moskau durchaus Interesse, seinen Einfluss auszuweiten. Was für Rimas als Romeo-Mission geplant war, nimmt eine dramatische Wendung – bald empfindet er mehr für die junge Frau, als er sollte.

Auch der CIA-Agent Francis Haywood wird nach Bonn beordert. Dabei ahnt er nicht, wer der freundliche Schwede wirklich ist, der in seiner Nachbarschaft lebt.

Bald wirft eine Spionageaffäre größeren Ausmaßes ihren Schatten auf die Bonner Republik, und auch Rimas droht, aufzufliegen. Kann er sich und Gisa aus der Schusslinie von BND und CIA retten?

Print: ISBN 9783754659007

Ebook: ISBN 9783757938598

Erscheint am 04.05.2024 bei Tolino Media und ist überall im Buchhandel sowie in allen Ebook-Shops erhältlich.