Leseprobe aus „Eis und Bernstein“ Staffel 1

Februar 1982

»Hier sind die Akten, nach denen du verlangt hast.« Mit nachdrücklichem Blick reichte Valdas die Pappordner über den Tisch.
Rimas nahm sie zufrieden grinsend entgegen, blätterte die unterschiedlich dicken Ordner durch. »Gab es Auffälligkeiten, von denen ich wissen müsste?«
»Kommt drauf an, was du unter Auffälligkeiten verstehst«, entgegnete Valdas, rührte seinen Kaffee um. »Krankheit, Sabotage …«
»Letzteres.« Auf seinem überkreuztem Knie schlug Rimas eine dickere Mappe auf, las sichtlich konzentriert.
Plötzlich verdunkelte ein Schatten die Sonne, das Licht der Deckenlampe tauchte das Zimmer in eine gelbe Flut. Draußen braute sich ein Schneesturm zusammen, der aufheulende Wind fegte um den Mauervorsprung. Einzelne verirrte Flöckchen wehten gegen das Fenster, zerstoben in ihre kleinen Kristalle.
»Das sieht ungemütlich aus«, bemerkte er, sah auf.
Ihn beunruhigten wohl die aufgedunsenen kaltgrauen Wolken, die sich über dem Waldgürtel zusammenballten und die blinkende Nadel des Fernsehturms einhüllten.
»Von Sabotage einer meiner Arbeiter habe ich nichts bemerkt«, beteuerte Valdas, biss auf einem Kaffeekörnchen. »Eine Arbeiterin macht immer Ärger, Eglė. Sie hat ein lockeres Mundwerk, mit dem sie provoziert.«
»Die ehemalige Hure?« Rimas zog Eglės Akte heraus, befeuchtete die Fingerspitze, blätterte. »Die sozialistische Gesellschaft hat ihr eine Bewährungschance gegeben. Jetzt liegt es an ihr, ob sie sie verspielt.«
Die aus dem Gefängnis entlassene Prostituierte Eglė hatte Valdas zunächst leidgetan. Einem Menschen, der sich selbst aus der Gemeinschaft ausgeschlossen hatte und tief gefallen war, sollte die Hand gereicht werden. Valdas hatte erwartet, sie wäre dankbar und würde seine Güte und Nachsicht zu schätzen wissen, doch anscheinend änderten sich manche Menschen nie. Gleichgültig hob er die Schulter, die Entscheidung lag nicht bei ihm.
Diese Geste fing Rimas mit kühlem Blick auf. Er schob Eglės Akte nach hinten, suchte offenbar nach einer anderen. »Aha, Rasa Tarvydaitė«, sagte er. »Nur ein Blatt und darauf nur ein paar Zeilen. Was gibt es schon über sie zu sagen?«
Valdas spürte, wie ihm ein warmer Schwall in die Wangen stieg, und hoffte, Rimas würde das nicht bemerken. Ablenkend schwenkte er die Tasse, so dass der Kaffee über den Bodensatz wogte wie eine Welle, trank aus, bis er das Pulver wie nassen Sand an seinen Lippen spürte. Mitten im Winter schwitzte er, als hätte er sich eine Grippe eingefangen. Dabei lag es an Gefühlen, die er nicht empfinden durfte. Nicht für Rasa. Manchmal wünschte er, ihr aus dem Weg zu gehen, damit sein Verlangen nach ihrer Nähe nachließ. Aber jeden Tag zog ihn sein Drang, einen Blick auf sie zu werfen, auf die Balustrade. Wenn sie ihn bemerkte, gab sie ihm ein Zeichen, lächelte, und eine tiefe Zuneigung erfüllte ihn.
»Ich wüsste nicht, was«, entgegnete er.
»Ich möchte sie sehen.« Rimas stand auf.
»Warum?«
»Wer weiß?« Fast schon anzüglich schnalzte Rimas mit der Zunge.
»Was hast du mit ihr vor?«, fragte Valdas scharf, betrachtete skeptisch das Schneegestöber, das sich mit finsteren Wolkengebilden und aufheulendem Wind zusammenbraute. Willst du sie mit anderen hübschen Mädchen mit zu Gelagen nehmen, nur damit Offiziere und Apparatschiks ihre perversen Neigungen an ihnen ausleben? Klirrend stellte er die Tasse zurück auf den Teller, erhob sich, trat ihm entgegen.
Mit dem Tosen des Schneegestöbers erscholl Rimas’ lautes Lachen. Er klopfte Valdas auf die Schulter. »Denkst du etwa schlecht von mir, mein Freund? Sie ist Pranas’ Tochter, darum ist sie besonders wertvoll.«
Besonders wertvoll. Was du auch immer darunter verstehst. Sein Widerstreben niederringend führte Valdas ihn auf die Balustrade, doch das Misstrauen eines eifersüchtigen Liebhabers wurde er nicht los. Rimas spähte in die Werkhalle hinab, umfasste das Geländer, griff in den roten Satin. Frieden, Fortschritt, Sozialismus.

Eine Begegnung, die Rasas Leben verändern soll: Rimas. Der charismatische, gleichzeitig unberechenbare KGB-General wählt sie aus.

»Wo ist sie?«, fragte er.
»Soll ich sie holen?«, entgegnete Valdas.
»Ja.«
Längst hatte Valdas sie an ihrem Platz entdeckt. Die Schutzbrille über ihrem Gesicht, beugte sich Rasa angestrengt über das Fertigungsband. Als sie mit dem Arbeitsschritt fertig war, legte sie die Brille ab, hob den Kopf. Sie bemerkte ihn, ein zurückhaltendes Lächeln umspielte ihren Mund. Valdas’ Herzschlag beschleunigte sich, eine heiße Welle jagte durch seine Brust. Er hob die Hand, signalisierte Rasa, dass sie zu ihm kommen sollte. Ungläubig deutete sie auf sich, was er mit einem Nicken beantwortete. Entlang des Bands suchte sie nach der Brigadeführerin, sprach sie an. Auch sie hob den Kopf, schickte Rasa dann hinauf.
»Das ist General Rutkus«, stellte ihr Valdas Rimas vor.
Aus grauen, mandelförmigen Augen kehrte ein fragender Blick zurück. Ihre Lippen formten eine Antwort, blieben aber verschlossen.
»Laba diena, Genossin Tarvydaitė.« Seine Hände auf dem Rücken verschränkt, trat Rimas auf sie zu, musterte sie wahrhaftig von der Haube bis zu den Schuhen.
Wie verunsichert Rasa sein mochte, konnte Valdas nicht nur an ihren suchenden Blicken erraten. Ihr ganzer Körper war angespannt wie eine Bogensehne, ihre vor Fragen und Unsicherheit leicht geöffneten Lippen zitterten.
»Nein, nein, haben Sie keine Angst«, beschwichtigte Rimas sie, setzte ein gewinnendes Lächeln auf. »Ich wollte Pranas Tarvydas’ Tochter sehen. Der Ruhm Ihres Vaters strahlt auf Sie ab.«
»Mein Vater … sicher.« Endlich fand Rasa ihre Sprache wieder, fasste sich.
»Sind Sie nicht stolz auf ihn?«
»Natürlich bin ich das.«
»Hm, ja«, machte Rimas, strich sich übers Kinn, sah Valdas an, dann Rasa. »Danke, Sie können an Ihren Arbeitsplatz zurückkehren.«
Als sie die Stahlstufen hinuntergegangen war, fragte Valdas: »Was sollte das jetzt? Was willst du mit dem Mädchen?«
»Lass das meine Sorge sein«, antwortete Rimas. »Aber du würdest nicht bestreiten, dass sie Pranas unähnlich ist. Dabei rede ich nicht nur von Äußerlichkeiten.« Er tippte sich an die Stirn, um zu zeigen, dass er Rasa für ziemlich aufgeweckt hielt, deutete auf Valdas und schlug den Weg zum Vorzimmer ein.

„Eis und Bernstein“ Staffel 1 ist ab 01.09.2023 überall im Buchhandel und online erhältlich.

Inhalt:

In der Liebe und im Kalten Krieg ist alles erlaubt

Man schreibt das Jahr 1981, als Rasa ihr Zuhause verlässt, um in der litauischen Hauptstadt Vilnius eine Karriere im Staatsdienst anzustreben. Dabei kreuzen zwei bedeutsame Männer ihren Weg: Der umtriebige Valdas Grinfeldis, der sich als ihr Schlüssel zur Vergangenheit ihres Vaters erweist – und der gefürchtete KGB-General Rimantas Rutkus, der sie, eine junge Frau voller Ambitionen und Sehnsucht nach einem abwechslungsreichen Leben, für den sowjetischen Geheimdienst anheuert.

Währenddessen wird der Ingenieur Algirdas Montvila, auch der »Eiserne Wolf« genannt, mit einem äußerst prekären Staatsgeheimnis betraut. Sein Aufstieg in die höchsten politischen Kreise scheint damit unaufhaltsam – doch tief in seinem Innersten ist Algirdas Patriot und muss Entscheidungen treffen, die ihn an seine Grenzen bringen.

Der farbenprächtige und fesselnde Auftakt der »Eis und Bernstein«-Saga um die »Perle von Vilnius« und den »Eisernen Wolf« – eine Zeitreise in eine Welt voller Geheimnisse und Gefahren.