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Obwohl sich die Sonne durch den Morgendunst kämpft, weht mir der feuchtkalte Fahrtwind entgegen und ich vergrabe mich in meinem Mantel. Meine Füße stecken in gut eingelaufenen Lederstiefeln, die anscheinend einer Soldatin gehören. Ich sitze neben Arvo, der den Jeep über die Landstraßen jagt. Die estnischen Landstraßen gleichen eher unseren Feldwegen. Vereinzelt ducken sich Holzhäuser an die Straße, weiße Dunstschwaden hängen zwischen herbstbunten Büschen und den letzten farbenprächtigen Gladiolen, Sonnenblumen und Astern, Wäsche hängt in manchen Gärten und in den feinen Spinnweben haben sich winzige Tauperlen verfangen. Hier kann man die Stille beinahe schon hören.
Arvo steuert den Jeep mit einer Hand, die andere ruht entweder auf seinem Oberschenkel, oder er führt eine Zigarette an die Lippen. Wir sind in den 1970er Jahren, und einiges, worüber sich heute empört wird, interessiert schlicht und ergreifend niemanden.
Apropos, Selbstoptimierung ist noch keine Religion, und da ich bei Arvo an einen äußerst authentischen Charakter geraten bin, frage ich ihn: „Bist du optimistisch, realistisch oder pessimistisch? Und warum?“
„Ich bin Realist“, antwortet Arvo, schenkt mir ein Lächeln, als nähme er sich selbst nur halb ernst. Das ist der augenzwinkernde Charme der Esten. „Warum? Weil nicht immer das schlimmste Szenario eintreten muss, das der Pessimist so liebt. Ich halte meine Erwartungen und Hoffnungen lieber niedrig und schätze ein, welche Pläne sich umsetzen lassen. Realismus ist wie eine Strategie, die man klar und scharfsinnig verfolgt.“
Hinter dem Dörfchen öffnet sich ein Kiefernwald, empfängt uns mit gefächerten Zweigen. Mir steigt der frische, verheißungsvolle Duft der langen Nadeln entgegen, vermischt sich mit dem herben Tabakqualm von Arvos Zigarette. Eines seiner Laster.
„Welche schlechte Angewohnheit möchtest du gerne loswerden?“, fällt mir ein.
Wie auf ein Stichwort betrachtet er die glimmende Spitze seiner heruntergerauchten Kippe. „Würde ich eine meiner Schwächen aufgeben, werden die anderen übersichtlicher“, überlegt er, nimmt noch einen Zug, bevor er den Stummel ausdrückt. „Ich rauche, trinke, fluche, esse und feiere gerne und habe in meinem Leben viele Frauen geliebt. Doch, du hast Recht. Ich sollte letzteres aufgeben.“
Nach einiger Zeit lichtet sich der Wald und eine weite Ebene, eingefasst von vereinzelten Kiefern und sich golden verfärbenden Birken.
„Wir sind gleich da“, sagt Arvo und deutet in die Ferne, wo die Sonne sich durch die Nebelschleier schält und sich blinkend auf einer Wasseroberfläche spiegelt. „Das Hochmoor.“
Knirschend rastet die Gangschaltung ein, er verlangsamt das Tempo. Unter mir schwankt der Jeep, bevor Arvo seitlich an einem Gebüsch anhält. Bei dem Anblick verschlägt es mir den Atem. Unzählige kleine Seen durchziehen Schilf- und Grasgürtel. Wie Splitter des Himmels, die in der weichen, feuchten Moorerde eingebettet sind. Ein Holzsteg führt ins Endlose. Bevor Arvo mir heraushelfen kann, gleite ich aus dem Jeep und komme auf dem Boden auf. Ich stehe vor ihm, blicke zu ihm hoch.
„Wofür hast du kein Verständnis?“, frage ich.
Arvo schiebt seine Kappe zurück, reibt sich die Stirn und späht umher. „Für das Überlegenheitsgefühl einiger Menschen, weil sie einer bestimmten Nationalität angehören und auf andere Völker und Ethnien herabblicken“, antwortet er.
Ich wundere mich, warum er sich bückt und im Gebüsch umherzupft. Hat er etwas verloren? „Kann ich dir behilflich sein?“, erkundige ich mich, trete näher.
„Nein, nein“, lehnt er ab, hält mir stattdessen einige weiße Beeren anbietend in der Handfläche entgegen. „Ich habe nur ein paar reife Moltebeeren gepflückt.“
Etwas befremdet sehe ich ihn, dann die Beeren an, die an Himbeeren erinnern und schiebe schließlich eine in den Mund. Sie schmecken köstlich, ein wenig herb. Jetzt läuft Arvo voran, strebt auf den Steg zu. In seinem Gesicht nehme ich den heimlichen Stolz wahr, den er empfinden muss, als er mir sein Heimatland zeigt.

Wir überqueren das Wasser, in dem sich tiefziehende, zerfranste Wolken spiegeln. Dabei fällt mir ein, dass ich einmal in Lettland war und meine Freundin meinte, ich dürfe mir etwas wünschen, als wir die Brücke über einen kleinen Fluss überquerten. Prompt frage ich Arvo: „Bist du abergläubisch?“
Ihm entfährt ein kurzes Lachen. „Nein!“, sagt er. „Ich glaube nicht, dass unser Glück von irgendwelchen Zwangshandlungen abhängt.“
Ich bemerke, wie er die Natur um sich herum aufsaugt, vernehme einen tiefen, wohligen Atemzug. Für eine Weile laufen wir schweigend nebeneinander her. Mir scheint die nächste Frage auf meiner Liste in dieser friedlichen wie beeindruckenden Umgebung unpassend, aber während ich Arvo mit Seitenblicken studiere, erkenne ich einen Mann, der die schönen Dinge des Lebens genießt.
„Gehst du gerne aus? Wenn ja, wohin?“
Er bedenkt mich mit einem Blick, als meinte ich meine Frage nicht ernst. „Natürlich gehe ich gerne aus“, antwortet er. „Mit meiner Frau gehe ich gerne ins Theater und ins Kino. Oder auf Feste wie an Mittsommer, Geburtstagen von Freunden und Verwandten und Neujahr. Ansonsten bin ich manchmal nach dem Dienst in der Offiziersmesse.“
Vermutlich mit Serjoscha, fällt mir ein. Der ist einer seiner Kameraden, aber eher ein übler Bursche, der dem Wodka, dem Glücksspiel und einigen weiteren Eskapaden zugeneigt ist.
„Wie geduldig bist du?“, interessiert mich dabei.
„Ich erwarte, dass meine Befehle und Anweisungen sofort umgesetzt werden. Als Vorgesetzter bin ich sehr ungeduldig“, gesteht Arvo. „Aber in Sowjetestland zwingt einen der Alltag zur Geduld. Vor den Läden bilden sich oft lange Warteschlangen, die Telefonverbindung funktioniert nicht immer und manchmal muss man auf Ersatzteile warten, oder es gibt sie erst gar nicht. Dann heißt es, improvisieren. Auch mein Kind fordert meine Geduld ziemlich heraus, besonders am Feierabend.“ Er zuckt leicht mit den Schultern und in seinen Augen kann ich erkennen, dass er wohl ein schlechtes Gewissen hat.
„Was macht dich glücklich?“
„Mein Sohn, obwohl er mich manchmal nervt“, antwortet Arvo.
Seine Direktheit ist bemerkenswert und ich will wissen, ob er tatsächlich sagt, was er denkt.
„Ich wollte, ich könnte es“, seufzt er, bleibt stehen und umfasst das Geländer des Holzstegs. „Dann liefe einiges anders im Militär und in diesem Land. Mit einer eigenen Meinung lebt man sehr gefährlich, also bin ich sehr vorsichtig. Darum kann ich nur meiner Frau und Martin gegenüber offen und ehrlich sein.“
Ich schätze Arvo auch sehr direkt ein und ihm muss es schwerfallen, sich im Alltag auf die Zunge beißen zu müssen. Missstände und Mangel gehören in der Sowjetunion zur Tagesordnung, selbst die größte Armee der damaligen Welt ist schlecht ausgerüstet und die Soldaten haben nicht immer genügend Verpflegung. Dafür lässt sich die Supermacht ihr Atomwaffenarsenal Hunderte von Milliarden kosten – was sie ruinieren wird.
Ob Arvo den Niedergang und den Zerfall des Roten Imperiums ahnt? Ob er zu träumen wagt, dass Estland eines Tages seine Unabhängigkeit wiedererlangen wird? Würde ich ihm als Zeitreisende einen Gefallen tun, wenn ich ihm verrate, dass ein gutes Jahrzehnt später der Eiserne Vorhang schmilzt, sich die beiden Machtblöcke nicht mehr feindlich gegenüberstehen und überall in Estland wieder die alte Flagge Blau-Schwarz-Weiß weht? Gedankenverloren schweift Arvos Blick in die Ferne. Denkt er gerade an die vergangenen Tage des alten Estlands seiner Kindheit? Vielleicht ruft er eine andere, schöne Erinnerung herbei und hängt der Vergangenheit nach.
„Was kannst du nicht wegwerfen?“, frage ich, betrachte wie ich das Wasser, das an einem Herbsttag wie heute spiegelglatt und still unter uns den Himmel spiegelt.
„Meine Fotoalben. Mit der Armee bin ich doch ein wenig in der Welt herumgekommen, und ich habe die Momente meiner Hochzeit darin verewigt“, erzählt Arvo, lehnt beide Arme auf das Geländer, beugt seinen Oberkörper leicht vor. „Ich würde auch den Karton, den ich von meiner Mutter übernommen habe, niemals wegwerfen. Darin befinden sich alte Bilder, als wir noch eine Familie waren, und die Postkarten, die ich ihr von meinen Stationen geschrieben habe.“
Ein gelbes Birkenblatt treibt fast reglos auf dem Wasser.
„Hast du Angst vor dem Tod?“
Bedächtig schüttelt Arvo den Kopf, überlegt und sinniert wohl über die Vergänglichkeit dieses Blattes: Abgestorben und abgeworfen landet es beliebig irgendwo. „Vor dem Tod an sich nicht. Ich habe einige liebe Menschen sterben gesehen“, verrät er. „Ich habe eher Angst davor, schwer zu erkranken und qualvoll und würdelos zu sterben.“ Plötzlich weht ein lebhafter Windstoß über uns hinweg. Leise höre ich das Flüstern der Kiefernnadeln und das prasselnde Rascheln des Laubs. Noch mehr Blätter rieseln herab, verfangen sich im Schilfgras und segeln auf das Wasser herab.
