#Charactersofseptember: Arvo über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – „Ich Idiot wurde schwach.“

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Kurz vor meinem Abschied von Tallinn besuche ich Arvo in seinem Haus im Stadtteil Nõmme. Ich erlebe ihn sehr zivil, in einer bequemen Sporthose und einem T-Shirt steht er am Rand des Pools und fischt Herbstlaub aus dem Wasser. Noch immer funkelt das Bassin verlockend türkisblau in der Septembersonne, aber im Schatten merke ich, wie weit nördlich ich mich befinde und schüttle mich leicht im kühlen Luftzug. Doch Arvo scheint es bei der Arbeit warm genug zu sein.

„Vermutlich sind wir die einzigen im Viertel, die über den Luxus eines Pools verfügen“, erzählt Arvo. „Manchmal springe ich im Sommer nach dem Aufstehen hinein, drehe ein paar Runden und richte mich danach für den Dienst her. Für den Jungen ist der Pool natürlich prima. Ich vermute, in dem Haus, das uns nach meiner Rückkehr aus Kirgisien zugeteilt wurde, wohnte zuvor ein russischer Offizier mit seiner Familie.“ Gegen die über den Horizont wandernde Sonne schirmt er seine Augen ab, nickt zu dem hellen Haus mit dem Flachdach. Inmitten der idyllischen Holzhäuser wirkt es sehr modern. „Wir Esten kämen nicht auf die Idee mit einem Pool und müssen auch nicht damit protzen. Die Sauna ist uns wichtiger. Von der hat man das ganze Jahr etwas und muss nicht Mengen an Wasser auslassen, wenn der Sommer vorbei ist.“ Er legt den Kescher beiseite. Wirklich begeistert wirkt er nicht, als er nach der Zigarettenschachtel greift und sich eine anzündet, mit dem Handrücken über seine verschwitzte Stirn wischt. „Was möchtest du heute von mir für deine Leser wissen?“, fragt er, öffnet zischend eine Bierbüchse und stößt mit meinem Glas an. Darin befindet sich Kissjel, ein rosafarbenes Getränk aus pürierten Beeren, das ich bereits von meinen Besuchen im Baltikum kenne.

„Du hast viel erreicht“, leite ich meine Frage ein, wende mich nach dem Haus um, vor dem sich ein prächtiger Kirschbaum verfärbt und sein Laub lichtet. „Bist du das geworden, was du früher werden wolltest?“

„Nein“, antwortet Arvo entschieden, bläst den Rauch aus und setzt sich auf eine der Plastikliegen. „Ich wurde nicht gefragt, ob ich auf die Militärakademie will. Ich wollte auch nicht tausende von Kilometern von meiner Heimat entfernt sein, und das mit achtzehn Jahren. Als Sohn eines Staatsfeinds sollte ich dankbar für diese großartige Chance sein.“ Er nimmt einen Schluck Bier, drückt mit den Fingern das Blech der Dose ein. „Mein Traum war, dass ich ein großer Pianist würde, der um die Welt reist und in den großen Konzerthäusern spielt. Als sehr junger Mensch darf man seine Ziele noch himmelhoch stecken.“

Für eine Weile versuche ich mir den bekannten Pianisten Arvo Kortelainen vorzustellen, der zumindest in den sozialistischen Bruderländern auftreten dürfte. Konzentriert sitzt er am Flügel, mitten auf der Bühne vom Scheinwerferlicht erfasst, und er geht auf in dem Musikstück, das er spielt. Zweifellos würde auch das zu ihm passen, aber ich kenne ihn meistens in seiner Uniform. Nun gut, gerade sitzt er in legerer Sportkleidung vor mir und in Badeschlappen anstelle polierter Halbschuhe.

„Was magst du an deiner Arbeit?“ Vielleicht gewinnt Arvo seiner Aufgabe doch etwas Gutes ab. „Was nicht?“

Da überlegt er lange und leitet erst einmal mit nooh ein. Er klingt nicht gerade begeistert, versucht es aber doch: „Ich mag das Strukturierte und das Strategische. Beides liegt mir.“ Ein hintersinniges Grinsen klemmt in seinem Mundwinkel, als er gesteht: „Mit der Uniform hat man es bei den Mädels leichter, auch wenn sie es nicht zugeben. Als General habe ich eine privilegierte Stellung im Staat und ich wäre dumm, sie nicht zu nutzen.“ Wieder drückt er die Dose zusammen, diesmal springen knackend die Dellen heraus, die seine kräftigen Finger im Blech geformt haben. „Was ich nicht mag, ist der Fraß aus der Feldküche, den es während der Manöver gibt. Und die Verbohrtheit, die kein selbständiges Denken zulässt und nur strikte Befehlsbefolgung kennt. Da wären noch die von sich selbst überzeugten Generäle und ihre einfältigen, parfümierten und aufgetakelten Weiber, die Lagle aus Höflichkeit in unser Wohnzimmer einladen muss.“

Das ist ganz schön stark. Anscheinend vertraut mir Arvo soweit, dass er über seine Vorgesetzten lästert. Ob er auf meine nächste Frage genauso unverblümt antwortet? Er deutete bei unserer letzten Begegnung bereits an, dass er eine Schwäche für schöne Frauen hat – obwohl seine Ehefrau wie die meisten Estinnen ebenfalls recht hübsch ist. Ich weiß auch, dass er vor ihr bereits länger liiert war.

„Wie endete deine letzte Beziehung?“, frage ich.

Als kundschaftete er das Vorrücken feindlicher Truppen aus, späht Arvo zum Gartentor. Nein, Lagle kommt nicht unvermittelt um die Ecke. Ihm scheint die Frage unangenehm zu sein. „Meinst du mit Sigrun? Weil ich mich in Lagle verliebt habe und etwas Ernsteres daraus wurde, habe ich mich getrennt“, verrät er, doch er scheint zu bemerken, dass mir die lapidare Zusammenfassung der großen Romanze in HES 1 „Unter dem roten Stern“ nicht genügt. Er weiß selbst, dass er etwas zu verbergen versucht. Während er an seiner Zigarette zieht und sie dreht, kräuselt er die leicht geschwungenen, eleganten Brauen. Mit seinen dunklen Haaren und den eisblauen Augen ist Arvo gewiss kein unattraktiver Mann, und dessen ist er sich bewusst. „Also gut“, räuspert er sich. „Ich Idiot wurde schwach und hatte an der Akademie eine Affäre. Diese Frau glaubte, aus uns würde mehr. Es endete, als ich ihr sagte, ich würde nach Estland zurückkehren und meine Frau niemals verlassen.“ Nachdenklich kratzt er sich am Kinn, blinzelt auf das funkelnde Wasser. „Oder gibt mir Lagle irgendwann den Laufpass? Wobei es im Moment wieder zwischen uns läuft …“ 

„Wen hast du zuletzt geküsst?“ Ich bin selbst neugierig.

„Meine Frau“, bekräftigt er. Ich höre heraus, dass sie ihm noch immer sehr viel bedeutet und wünsche ihm, dass er nochmals die Kurve kriegt.

Umso provokanter dürfte meine Frage sein, was er aus seiner Vergangenheit bereut.

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich mehr meinen Seitensprung bereuen soll, oder dass ich Lagle davon gebeichtet habe“, erklärt er sein Dilemma, schnippt die Asche seiner Zigarette ab.

Dabei belasse ich es lieber und frage: „Und worauf bist du stolz?“

„Natürlich auf meinen Sohn“, antwortet Arvo, und der düstere Schatten in seinen Augen verschwindet. „Ich bin auch stolz auf meine Laufbahn und dass ich es als Este so weit gebracht habe. Alle Generäle und Kommandeure sind Russen, und obwohl ich mich doppelt vor ihnen beweisen muss, gibt es mir eine Genugtuung, dass ich ihnen ebenbürtig bin.“ Die diebische Freude und den Patriotismus sehe ich ihm an seiner wohlgeformten Nasenspitze an. „Hast du sonst noch Fragen?“

„Ja. Wann du zuletzt das erste Mal etwas getan hast.“

„Wann ich was?“, lacht er auf. Dabei macht er seine Augen gefährlich schmal. Wie ein nordischer Eroberer, der von seinem Drachenboot springt und sich umsieht. „Ich habe fast alles zum ersten Mal in meiner Jugend und in meinen Zwanzigern getan.“ Während Arvo seine Kippe im Aschenbecher ausdrückt und die Bierdose leert, zieht er die Brauen hoch. Er steht auf, nimmt den Kescher. „Machen wir weiter.“

Das fasse ich glatt als Aufforderung auf. Ich sehe, welche Mühe er sich gibt, nach den Blättern zu fischen, die auf den Grund des Pools gesunken sind. „Für was hättest du gerne mehr Zeit?“, will ich erfahren.

„Für meine Familie“, erwidert er, zupft die schlabbrigen, dunkelbraunen spitzen Blätter des Kirschbaums aus dem Netz. „Ich sollte mehr Sport machen, oder am Strand spazieren gehen. Ich würde gerne wieder ein Buch lesen. Und natürlich ausschlafen.“

Noch einmal betrachte ich das Haus, in dem Arvo und Lagle leben. Die Doppeltür zur Terrasse lässt es hell und einladend wirken. Da sich die Sonne im Glas spiegelt, kann ich außer den Vorhängen nicht viel erkennen, aber da ich die Einrichtung in HES beschreibe, ist es sehr behaglich dort. „Was macht dein Zuhause zu deinem Zuhause?“, fällt mir ein.

„Die Lebendigkeit und Wärme, mit der es meine Frau und mein Sohn ausfüllen“, erklärt er.

Als die Sonne hinter den Baumwipfeln verschwindet und die Schatten kühl und feucht den Garten einhüllen, verspüre ich einen leichten Stich. Es wird allmählich Zeit für den Abschied. Arvo legt den Kescher beiseite, schlüpft in die Trainingsjacke. Selbst er scheint jetzt leicht zu frösteln. Mit seiner Arbeit ist er fertig. „Jetzt lasse ich das Wasser ab und befestige die Folie“, sagt er. „Solange es noch hell ist.“ Damit hat er Recht, in diesen Breiten scheint im Herbst der Horizont die Sonne zu verschlucken und es wird abrupt dunkel.

Ich betrachte einen Mann, der ausgiebig lebt und damit sehr facettenreich ist. Arvo hat viel gesehen, ertragen und musste sich durchsetzen. Also bleibt mir noch meine Abschlussfrage: „Welches Ziel möchtest du unbedingt noch erreichen?“

Er überlegt eine Weile, dann antwortet er: „General der Armee eines freien Estlands sein.“ Seufzend fügt er hinzu: „Aber das scheint unmöglich.“

Wieder beiße ich mir auf die Zunge. Trotzdem entschließe ich mich, ihm einen kleinen Hinweis zu geben. „Merk dir den Namen Gorbatschow.“

Leicht irritiert kräuselt Arvo die Stirn. „Hm, Gorbatschow? Der Landwirtschaftssekretär im Moskauer ZK?“ Mehr scheint er mit dem Namen nicht anfangen zu können.

Ich nicke. Wie dem auch sei. „Kindral Kortelainen“, setze ich zum Abschied an und zeige einen militärischen Gruß, „es war mir wie immer eine Ehre.“

Um in meine Zeit zurückzukehren muss ich durch keinen Steinkreis gehen. Ein Kirschbaum in Tallinn-Nõmme erweist sich als Portal. Ich stelle mich unter seine ausladenden Äste, gleich rieselt ein Sturm von Blättern herab. Ich werde weder Arvo noch Tallinn endgültig verlassen, denn seine ganze Geschichte, seine jungen Jahre und die Freundschaft zu Martin und Meeli wollen erzählt werden.

Wer für jetzt mehr erfahren möchte, morgen erscheinen beide Bände von „Himmel, Erde, Schnee“.

Veröffentlicht von autorinirahabermeyer

Autorin Cold War Fiction-Romane

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