Diesen Artikel habe ich als Gastbeitrag für OsTraum verfasst
Das Baltikum – unter diesem Sammelbegriff werden Litauen, Lettland und Estland genannt. Kulturell sind diese drei Länder sehr unterschiedlich und historisch haben sie sich jeweils anders entwickelt. Im 15. Jahrhundert war Litauen eine regionale Großmacht und reichte in seiner größten Ausdehnung bis zur Krim, bis es sich rund hundert Jahre später mit dem Königreich Polen vereinte und durch die 3. polnische Teilung an Russland fiel. Lettland und Estland dagegen wurden abwechselnd vom Deutschritterorden, Dänemark, Schweden und Russland beherrscht.

Was alle drei Länder eint, ist die Zeit der Unabhängigkeit zwischen den Weltkriegen, das dunkle Kapitel sowjetischer Besatzung und die aus Glasnost und Perestrojka resultierende „Singende Revolution“, die 1991 zur Wiedererlangung ihrer Souveränität führte. Aktuell steht das Baltikum wieder stärker im Fokus. Sei es aufgrund der geopolitschen Lage zwischen der Ostsee und Russland, oder aufgrund der historischen Verbindungen zur Ukraine. Noch stehen Litauen, Lettland und Estland nicht im Fokus der populären Literatur, obwohl die Natur als Schauplatz atemberaubend, Städte wie Vilnius, Kaunas, Riga oder Tallinn ihre jeweilige besondere Aura haben und die Menschen in der Vielfalt der unterschiedlichen Mentalitäten lebhafte wie facettenreiche Protagonisten darstellen. Wer explizit nach Romanen sucht, die in Litauen, Lettland und/oder Estland spielen oder dazu einen Bezug haben, muss ein wenig tiefer danach schürfen, doch die Suche lohnt sich auf jeden Fall. In unserer Liste der 7 Romane über Litauen, Lettland und Estland fehlen bekannte Namen wie Sofi Oksanen oder Lennart Meri selbstverständlich nicht, doch auch den anderen Autoren sollte definitiv Aufmerksamkeit geschenkt werden.
7. SOFI OKSANEN „FEGEFEUER“
Schonungslos, düster und mit drastischen, einprägsamen Bildern führt die finnisch-estnische Dramaturgin und Autorin Sofi Oksanen die Schicksale zweier Frauen unterschiedlicher Generationen im Herbst 1992 zusammen: Die der alten Aliide, die verwitwet und zurückgezogen in ihrem Haus im Westen Estlands lebt und die der Prostituierten Zara. Die ist auf der Flucht vor ihren Zuhältern gar nicht so zufällig bei Aliide gestrandet wie es scheint. Schon bald stellt sich heraus, dass die beiden Frauen eine Verbindung haben: Zara ist die Enkelin von Aliides Schwester Ingel, die aufgrund Aliides Verrat nach Sibirien deportiert wurde.
„Die Schwalben waren schon fortgeflogen, aber die Kraniche durchpflügten mit ausgestrecktem Hals den Himmel. Ihr Schreien regnete aufs Feld herab und verursachten Aliide Kopfschmerzen. Anders als Aliide hatten sie die Freiheit zu fliegen, wohin sie wollten. Sie hatte nur die Freiheit, in den Pilzwald zu gehen“
Sofi Oksanen, „Fegefeuer“
Auf zwei Zeitebenen und in Rückblenden erzählt Sofi Oksanen jeweils das Schicksal der beiden Frauen. Die Handlung reicht weit zurück ins Estland der 1930er Jahre, als sich Aliide in Hans verliebte und der sich aber in ihre Schwester Ingel verliebt. Verbissen hofft Aliide, er möge sich doch für sie entscheiden, obwohl er Ingel heiratet. Als 1944 Estland endgültig von den Sowjets besetzt wird und Hans als Partisan gegen die Besatzer kämpft, sieht Aliide ihren Moment gekommen, sich an ihrer Schwester zu rächen und denunziert sie. Damit beschreibt Sofi Oksanen sehr eindrucksvoll, wie weit ein Mensch aus Habgier und Verblendung gehen kann. Zaras Epoche sind die von gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen geprägten Wendejahre, als die Versprechen von einem besseren Leben im Westen lockten – und das Mädchen damit ihren Zuhältern in die Falle tappt. Auch hier beschreibt Sofi Oksanen die Atmosphäre zwischen Zerfall des Sowjetkommunismus und dem jungen Staat Estland sehr treffend.

6. LENNART MERI „ES ZOG UNS NACH KAMTSCHATKA“
Deutsche Übersetzungen jener Romane von Lennart Meri, die ihn zu einem der Vordenker der „Singenden Revolution“ machten und den Schriftsteller und Filmemacher während der Sowjetzeit ein Berufsverbot einhandelten, sind leider nicht erhältlich. Dabei dürfte Hõbevalge (Silberweiß) sein bedeutendstes Werk sein, das sich Estlands Geschichte widmet sowie dem Mythos von Ultima Thule. Ein antiquarischer Schatz dürfte die deutsche Übersetzung seines Reiseberichts „Es zog uns nach Kamtschatka“ sein, der auch in der DDR erschien. Reisebericht mag zu schlicht und spröde klingen, in Wirklichkeit entführen Meris Wortgemälde auf die wilde Vulkanhalbinsel Kamtschatka, so dass seine Schilderungen romantauglich sind.
„Und wo ist die Taube, die uns den Weg zeigt? Vielleicht diese Möwe dort? Die den Himmel verdeckenden Felswände rücken fast aneinander und hauchen und erstarrende Kälte ins Gesicht. Schneller, nur schneller vorbei! Aber die Gorsk stampft ruhig weiter, nicht allzusehr erschreckt durch die Beispiele der antiken Literatur.
Guten Tag, Ozean, und gute Nacht!“
Lennart Meri, „Uns zog es nach Kamtschatka“
Lennart Georg Meri (1929 – 2007) war ein estnischer Schriftsteller, Filmemacher und Politiker, sowie der erste frei gewählte Staatspräsident Estlands. Er wurde in Tallinn als Sohn eines Diplomaten geboren, 1941 wurde Meri mit seiner Familie nach Sibirien deportiert. Dort entdeckte er sein Interesse an der finno-ugrischen Sprachfamilie, zu der auch Sprachen der sibirischen Ureinwohner gehören. Meri gelangte zurück nach Estland. Da ihm die Sowjetmacht verweigerte, seinen Beruf als Historiker auszuüben, fand er am Theater eine Anstellung als Dramaturg. Seine Filme fanden Anklang bei den Kritikern. Meri unterhielt Kontakte zu emigrierten Est*innen, Mitte der 1980er Jahre machte er die Pläne der Sowjets bekannt, Phosphat in Estland abzubauen. Aus den Umweltprotesten wurden bald Kundgebungen für mehr Souveränität der damaligen Teilrepublik der UdSSR, die mit der „Singenden Revolution“ und dem Zerfall der Sowjetunion zur Unabhängigkeit führten. 1992 wurde Meri zum Präsidenten Estlands gewählt und blieb bis 2001 im Amt. 2007 starb Meri in seiner Heimatstadt Tallinn.

5. RŪTA SEPETYS (ŠEPYTĖ) „BETWEEN SHADES OF GRAY“
Wie zuvor angedeutet gleicht auch die Suche nach zeitgenössischer Literatur mit Schauplatz Baltikum dem Finden eines Schatzes. Der Roman der amerikanischen Autorin mit litauischen Wurzeln diente als Vorlage für den Film „Ashes in the Snow“. Aus der Perspektive der 15jährigen Lina erzählt Rūta Sepetys von jenem 14. Juni 1941, als nachts das NKWD kam, um sie, ihren Bruder und ihre Mutter aus ihrem Haus in Kaunas abzuholen und in einen Viehwaggon zu pferchen. Linas Vater, denunziert von einer Kollegin, ist bereits verhaftet und harrt in einem anderen Waggon aus, bis sich die Züge in Richtung Zentralasien, beziehungsweise Sibirien in Bewegung setzen. Die Familie wird auseinandergerissen und auf unterschiedliche Lager verteilt. Der einzige Weg, die Verbindung zu ihrem Vater zu halten, sieht die kunstbegabte Lina darin, ihm Nachrichten in Form von Bildern zukommen zu lassen. In kurzen Kapiteln schildert Rūta Sepetys den Lageralltag, die Willkür der Wärter, aber auch den Zusammenhalt und den Funken von Menschlichkeit. So finster wie die Polarnacht im kargen Norden Russlands wirken auch die Aussichten der Deportierten – beeindruckend ist die Hoffnung auf Freiheit und die Wahrung von Selbstbestimmung, Würde und dem sprichwörtlichen Humor der Litauer selbst in den schlimmsten Situationen. Als ein kleines Manko könnten die vereinfacht wiedergegebenen Nachnamen angeführt werden, weil diese kaum authentisch sind. Dennoch ist der Roman so hoffnungsvoll wie Linas Zeichnungen.
„Andrius peeked out the other side and waved us on. I crawled out. The back of our train car had Russian writing on it.
„Thieves and prostitutes,“ Andrius whispered. „That’s what it says.“
Rūta Sepetys „Between Shades of Gray“

„Between Shades of Gray“ basiert auf Berichten von Überlebenden der Deportationswellen von 1941, bzw. ab 1944, von denen überall im Baltikum schätzungsweise 200.000 Menschen in sibirische Gulags deportiert wurden. Rūta Sepetys‘ Großvater war Offizier in der Republik Litauen und floh vor dem Stalinistischen Terror in die USA.
4. ILMAR TASKA „POBEDA 1946“
„Pobeda“ („Sieg“) war eine sowjetische Automarke, und um einen „Pobeda“ geht es in dem gleichnamigen Roman des estnischen Autors Ilmar Taska.
1946 ist das einst freie Estland seit zwei Jahren von der Sowjetunion besetzt, der stalinistische Terror willkürlicher Verhaftungen und Deportationen nach Sibirien sind an der Tagesordnung, ein Spitzelstaat wird errichtet. In diesen Zeiten ist ein Sechsjähriger fasziniert von dem Auto, das ein „Onkel“ fährt, und in seiner Naivität verrät der Junge seinen Vater, der im Widerstand ist. Dann verschwindet auch noch die Mutter und der Junge ist in dem totalitären System auf sich allein gestellt … Johanna, eine Opernsängerin am 1944 durch einen sowjetischen Luftangriff zerstörten „Estonia“-Theater, versucht ihre Beziehung zum BBC-Sprecher Alan aufrecht zu erhalten. Gelingt es den beiden trotz des Eisernen Vorhangs und aller Risiken zum Trotz, einen gemeinsamen Weg zu finden?
„Die Frau kramte aus dem Büfett eine Vorkriegspuderdose und einen abgenutzten Lippenstift hervor. Sie öffnete die Puderdose und betrachtete ihr Gesicht in dem zersprungenen Spiegel. Ihre Tränensäcke waren vom Weinen und den schlaflosen Nächten angeschwollen, und sie tupfte ein wenig Puder darauf. Wer war dieser Mann? Verdächtig schön und glatt. Und allzu meisterhaft im Bett.
„Nicht traurig sein, Mama. Bald trösten der Onkel und ich dich wieder“, sagte der Junge und riss sie aus ihren Gedanken.
Ilmar Taska, „Pobeda 1946“

Taskas Schreibstil besticht trotz aller Tragik und Grausamkeit durch seine Anmut, fast schon lakonisch beschreibt er den Alltag jener Menschen, die ihrer Freiheit, ihrer Kultur und ihres Landes beraubt wurden. Auch fügen sich nach und nach auf eine elegante Weise die Handlungsstränge zusammen, und bewusst hat Taska dem „Jungen“, der „Frau“, dem „Mann“ und dem „Generalmajor“ keine Namen gegeben – sie stehen sinnbildlich dafür, dass sie in der UdSSR nur unbedeutende Nummern sind, um deren Schicksal sich niemand zu kümmern hat.
3. EDVARTS VIRZA „STRAUMĒNI“
Weiter zurück in der Geschichte, ins 19. Jahrhundert, führt uns der lettische Autor Edvarts Virza (1883 – 1940) mit seinem gleichnamigen Roman über das fiktive kurländische Dorf Straumēni. Gerade wird im zum Russland gehörenden Gouvernement Kurland die Leibeigenschaft aufgehoben, Riga wird zu einer wichtigen Industrie- und Hafenstadt und in Lettland beginnt das nationale Erwachen. Virza beschreibt in „Straumēni“ das Leben auf einem Gehöft im Wandel der Jahreszeiten. Die Hausherren, ihre Kinder, die Knechte und die Mägde haben jeweils ihren festen Platz, die Gemeinschaft steht im Mittelpunkt und daher hat Virza wohl auf eine Protagonistin oder einen Protagonisten verzichtet. Alte lettische Feste, die noch aus dem Heidentum stammen, spielen eine wesentliche Rolle im Leben, wobei sich der christliche Gott und die alten mythischen Gestalten ergänzen.
„Die Lielupe floss langsam dahin wie ein Fuhrwerk Heu auf einem sandigen Weg am Abend, und ihr Wasser warf nicht einmal Blasen an den flachen Stein in der Flussmitte auf. In der Mittagszeit, wenn alle Leute die Felder verlassen hatten, stieg der Flussgeist aus der Tiefe des Stroms empor, nahm hier Platz und beobachtete, wie der Fluss in Biegungen hinter den Feldern verschwand und ringsherum im Wasser Fische mit ausgebreiteten Flossen und aufgesperrtem Maul umherschossen.“
Edvarts Virza „Straumēni“
Außergewöhnlich an diesem Roman ist, dass er gänzlich auf Dialoge verzichtet. Vielmehr stehen die Klänge und Geräusche der Natur, das Geplauder und Singen der Menschen im Vordergrund. In hektischen Zeiten bietet „Straumēni“ Entspannung und Entschleunigung. Geradezu lädt Virza dazu ein, mit dem Buch die Augen zu schließen und sich Lettlands Flüsse, Felder und Weiler vorzustellen.
2. KARL RISTIKIVI „DIE NACHT DER SEELEN“
Surrealistisch und existentialistisch ist „Die Nacht der Seelen“ des estnischen Exilschriftstellers Karl Ristikivi (1912 – 1977). Darin lässt er aus der Ich-Perspektive den Leser an seiner Situation im Stockholmer Exil teilhaben. In der Erwartung, in der Silvesternacht dort Unterhaltung und Gesellschaft zu finden, betritt der Protagonist ein Haus durch eine offenstehende Tür. Je weiter er in das Haus vordringt und seine Räume betritt, umso tiefer gerät er in seine eigene Geschichte und seine Erinnerungen.
„Da die Tür so verlockend offen stand, konnte man davon ausgehen, dass ein Saal an solch einem verwaisten Ort nicht ausverkauft war. So könnte ich doch noch für ein paar Kronen bei Licht und Wärme das Stündchen zubringen, das von diesem Jahr übrig war. Das hieß natürlich, dass ich meinen ursprünglichen Plan aufgeben musste. Aber lieber das alte Jahr mit der Anerkennung des eigenen Scheiterns beenden, als das neue damit zu beginnen.
Und so trat ich durch die offene Tür.
Karl Ristikivi „Die Nacht der Seelen“
Karl Ristikivi, Romanautor, Essayist und Dichter gilt als Meister der modernistischen estnischen Literatur. Seine in Schweden veröffentlichten Werke gelangten während der sowjetischen Okkupation nur geschmuggelt nach Estland, allerdings erschien während der Tauwetter-Periode der 1960er Jahre ein Roman in Ristikivis Heimat.
1. ANTANAS ŠKĖMA „DAS WEISSE LEINTUCH“
Ebenfalls in seinem Exil entstand zwischen 1952 und 54 „Das weiße Leintuch“ des litauischen Autors Antanas Škėma (1910 – 1961). Sein Alter Ego Antanas Garšva, ein von den kommunistischen Machthabern in Litauen verbotener Schriftsteller, verdingt sich in einem New Yorker Hotel als Liftboy. In zwei Erzählperspektiven wechselt Škėma zwischen der Gegenwart im Alltag des Hotelpersonals, einer Dreiecksbeziehung innerhalb der litauischen Community, sowie der psychischen Erkrankung des Protagonisten, und den Rückblenden. Der Ich-Erzähler führt zurück in seine Kindheit und Jugend in Kaunas, das während der Weltkriege Hauptstadt der Republik Litauen war. Während der ersten sowjetischen Besatzung 1940 – 41 werden Garšvas Gedichte als „bürgerlich“ verboten, während andere Dichter, die zuvor patriotische Werke verfasst hatten, weiterhin arbeiten und Elegen auf Stalin schreiben. Garšva kämpft als Partisan gegen die Besatzer, flieht schließlich nach Deutschland und lebt dort mit einer Gruppe Landsleute in einem Displaced Persons-Camp, bis er in die Vereinigten Staaten ausreisen kann. Dort verliebt er sich in die verheiratete Elena, doch er schwankt zwischen der Absicht, sie zu heiraten und seiner inneren Freiheit.
„Und trotzdem kann ich nicht vergessen. Alle Probleme schmelzen dahin, weil ich noch immer Elenas Grau fühlen kann. Weil mein Verzicht nicht von Überdruss und Erschöpfung diktiert war.“
Antanas Škėma „Das weiße Leintuch“
Antanas Škėma wurde 1910 in Lodz, Polen, geboren und kehrte 1921 mit seiner Familie nach Litauen zurück. In Kaunas studierte er zunächst Jura und Medizin, widmete sich in den 1930er Jahren dem Theater. Neben der Schauspielerei arbeitete er auch als Regisseur an Litauischen Nationaltheater in Vilnius. 1944 flüchtete Škėma vor den Sowjets nach Deutschland, veröffentlichte eine Sammlung von Kurzgeschichten und verfasste erste Dramen. 1949 emigrierte er in die USA, wo er in Fabriken und als Liftboy arbeitete. Für die Exilgemeinde verfasste Škėma Beiträge für Zeitschriften und Zeitungen, sowie Romane, Essays und Gedichte.
Sofi Oksanen
Fegefeuer
2010 Kiepenheuer und Witsch
Lennart Meri
Es zog uns nach Kamtschatka
1964; im Antiquariat zu finden
Rūta Sepetys
Between Shades of Gray
2011 Penguin Books
Ilmar Taska
Pobeda 1946
2017 Kommode Verlag
Edvarts Virza
Straumēni
Guggolz Verlag
Karl Ristikivi
Die Nacht der Seelen
Guggolz Verlag
Antanas Škėma
Das weiße Leintuch
Guggolz Verlag