So ziemlich gute Nachbarn – Leseprobe aus „Bruderküsse“

Themen: Roman, Historischer Roman, Zeitgeschichte, Leseprobe, 1970er Jahre, Deutschland

Wisst ihr, was eure Nachbarn in Wirklichkeit so treiben? Rimas/Ville und Francis wohnen in Bad Godesberg fast gegenüber und wissen nicht, welchem wahren Beruf der jeweils andere nachgeht. Selbst Francis‘ Ehefrau June hat keine Ahnung, dass er CIA-Agent ist. Er wähnt sie im sicheren Glauben, er wäre Diplomat in der US-Botschaft und betreibt einen großen Aufwand, damit seine Tarnung nicht auffliegt. Die wäre auch nicht das einzige Geheimnis, das er vor ihr hütet.

Auch Rimas spielt seine Rolle als schwedischer Journalist Ville Magnus Holmberg meisterlich. Er ist höflich-zurückhaltend, leicht unterkühlt und Nordeuropäer – allerdings stammt er von der anderen Seite der Ostsee.

Die erste Begegnung zwischen ihm und der amerikanischen Familie findet in einem Lebensmittelladen statt, in dem June und er einkaufen. Bereits in der sowjetischen Jugendorganisation Komsomol hat Rimas gelernt, Frauen und älteren Menschen stets zu helfen, und die Litauer sind freundliche, hilfsbereite Menschen. So fährt er June mitsamt ihrer Einkäufe nach Hause und sie erzählt Francis später von dem zuvorkommenden Nachbarn.

Ein Geheimagent zu Thanksgiving

Langsam entwickelt sich ein nachbarschaftliches Verhältnis. Die Männer treffen sich zum Joggen, später unternehmen auch die Frauen etwas miteinander und Francis lädt Rimas/Ville und Gisa zu Thanksgiving ein. Alles scheint selbst für erfahrene, misstrauische Agenten unverdächtig, Biografien, Gewohnheiten, der normale bürgerliche Alltag eben.

Als gäbe es weder Ideologien noch Wettrüsten: Rimas/Ville und Francis

Gute Nachbarn – vielleicht Freunde

Francis und Rimas könnten gute Nachbarn, wenn nicht gleich Freunde werden. Beide gehen gerne auf die Jagd und zum Fischen – und sind auf ihre Weise absolute Hardliner. Für einen Südstaatler und Kommunistenhasser wie Francis gibt es kein besseres Land auf der Welt als die USA, geführt von Präsident Nixon und Garant für Freiheit. Obwohl Rimas die Vorzüge des Westens genießt, hält er den Realsozialismus für die größte Errungenschaft menschlicher Zivilisation. Kann man zumindest einen verbalen Schlagabtausch zwischen den beiden erwarten? Ich werde hier nicht spoilern.

Auch sie sind Freundinnen: Die Amerikanerin June und die Sozialdemokratin Gisa

So lange Francis und Rimas ihr Handwerk beherrschen und ihre bürgerlichen Fassaden aufrecht erhalten und ihre Ideologien beiseite lassen, könnte es klappen mit der Nachbarschaft.

Bonn, Dezember 1973

Rimas spürte das Dröhnen der Bässe in seiner Magengegend mit jedem Schritt stärker, den er sich dem Mirage näherte. Ein Grüppchen junger Leute scharte sich am Eingang, die Mädchen pressten fröstelnd ihre Knie aneinander und warteten sehnsüchtig darauf, in die schweißtreibende Hitze der Diskothek zurückzukehren. Wobei Diskotheken niemals Rimas‘ Lieblingsorte werden würden.
Nutbush City Limits peitschte ihm entgegen und zerrte an seinem Trommelfell, als er das Mirage betrat. Francis wollte gerade für alle den Eintritt bezahlen, da winkte er ab und zückte einen Zehnmarkschein aus seinem Portemonnaie.
»Ist in Ordnung«, bedeutete Rimas und erhob seine Stimme über die laute Musik.
»Dafür gebe ich eine Runde aus«, erwiderte Francis, seine Lippen nahe an Rimas‘ Ohr.
Nachdem sie sich von den Mänteln und Mützen befreit hatten, tauchten sie ein in das Flackern bunter Lichter und silbern glitzernder Kaleidoskope, in die aufgeheizte und rauchgeschwängerte Luft. Der lebenslustige Tumult sprang wie ein Funke auf Gisa über. Mit wiegendem Oberkörper und schwingenden Hüften lief sie hinter Francis her, auf den Tisch zu, den er ausgespäht hatte.
»Was darf es für euch sein?« Beflissen, sein Wort einzulösen, stemmte Francis die Hände auf die Tischplatte und nahm die Bestellungen entgegen.
»Cola-Rum«, orderte Gisa, und Rimas schloss sich ihr an.
Wenig später servierte eine Bedienung im knappen Kleid die Getränke. Francis und June nahmen jeweils bunt dekorierte Cocktailgläser vom Tablett.
»Wer weiß, wie lange man noch Auto fahren kann.« Er hob sein Glas, in dem Orangenscheiben und Ananasstückchen schwammen, und prostete zuerst June, dann Gisa und Rimas zu. »Morgen ist Sonntag, alle Autos müssen in der Garage bleiben. Wart ihr schon mal auf der Autobahnbrücke und habt auf die leeren Fahrbahnen geblickt? Letzten Sonntag ging ich mit meinem Sohn dorthin. Der Weg war lang und es war kalt, und wir machten ein Foto. Ich sagte zu Byron, dass er so etwas wohl einmal und hoffentlich nie wieder sehen wird. In Amerika wäre es undenkbar, Fahrverbote zu erlassen.«
»Wie gut, dass wir am Dienstag fliegen«, sagte June. »Wir würden sonst nicht zum Flughafen Frankfurt kommen.«
»Es sei denn, ein Blizzard fegt über Deutschland hinweg«, scherzte Francis.
Gisa wickelte ihre Halskette um den Finger und wandte ein: »Der würde der Krise noch einen draufsetzen. Aber ihr werdet sehen, an Weihnachten ist der ganze Schnee wieder weg.«
»Welcher Krise?«, erwiderte er augenzwinkernd und legte sein Jackett ab. Zum Takt von Ballroom Blitz wippte die Zigarette in seinem Mundwinkel und er hob die Arme in die Luft. Er drückte den Glimmstängel aus und streckte ihr auffordernd die Hand entgegen. »Tanzen wir die Krise weg, na los.«
Überrumpelt sah sie Rimas an, als erwartete sie seinen Einwand. So ausgelassen und übersprühend vor guter Laune hatte er Francis noch nicht erlebt, aber er gab ihr zu verstehen, dass er nichts dagegen hatte, wenn er sie auf die Tanzfläche führte. Dass er jemals mit Amerikanern trinken und feiern würde, als gäbe es weder ein Wettrüsten noch ein Morgen, hatte Rimas nie gedacht.
»Darf ich bitten?«, forderte er June auf, die verlegen mit dem Strohhalm in ihrem Drink rührte. Er machte sich bereit wie ein Matador, der in die Arena schritt, und befreite sich ebenfalls von seinem Jackett.

Aus dem Kapitel Myself to You

Bruderküsse – der Spionageroman im Bonn der 1970er Jahre.

Veröffentlicht von autorinirahabermeyer

Autorin Cold War Fiction-Romane

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