Die A-Seite und die B-Seite – Making Of Sternenstürmer #4

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Wäre „Sternenstürmer“ eine auf eine Schallplatte gepresste Rock Opera, gäbe es eine A-Seite und eine B-Seite. Bei einem Roman gibt es Kapitel und Teile, und dieser hat zwei Teile wie Tag und Nacht, wie hell und dunkel, wie hoffnungsvoll und dystopisch.

Als ich Ende vergangenen Jahres Lucija und Dovidas wiederbelebte, hatte ich nicht vor, ein Epos zu schreiben. Doch je tiefer ich mich in ihre Welt der 1970er und 1980er Jahre in den Sowjetzeiten hineinbegebe, merke ich, sie lässt sich nicht auf 100 Seiten abhandeln.

Es ist die Welt der Schwarzmärkte und des Subversiven an der Universität, die ein Paralleluniversum zu Kommandos und Konformität bildet. Gleichzeitig wirft der Kalte Krieg mit seinen Bedrohungsszenarien seine Schatten, doch Lucija und Dovidas lassen sich davon nicht einschüchtern und leben ihr Glück. Sie verbringen Sommertage in Jalta – und die Parallelereignisse des Jahres 2022 holen mich ein, als ich eine inzwischen untergegangene Welt beschreibe. Dovidas‘ launenhafter wie hinterhältiger Vorgesetzter nimmt die beiden mit zur Eröffnungsfeier der Olympischen Sommerspiele in Moskau 1980, die von vielen westlichen Nationen wegen des Einmarsches in Afghanistan boykottiert wurden. Sozusagen als Dank dafür, dass Dovidas als diensthabender Offizier geistesgegenwärtig eine Eskalation zwischen Ost und West verhindert hat, weil er den Fehler im Alarmsystem erkannt hat.

Doch dann bricht der Krieg, der offiziell keiner ist – wie sehr sich die Geschichte wiederholt – ins Leben der beiden. Durch eine Intrige wird Dovidas nach Faisabad geschickt, und Lucija bleibt in Litauen zurück und wartet auf ein Wiedersehen. Das ist die dystopische B-Seite.

Lucija und Dovidas – entstanden 2009, als ich die erste Version von „Sternenstürmer“ schrieb

Leseprobe:

Ein kühler Wind fegt um die Mauer der Kommandantur, wirbelt Staub vor meinen Füßen auf und reißt an den roten Flaggen, als ich darauf zulaufe. Verzagt weht mir der süße Duft wilder Veilchen auf der Grünfläche entgegen, aber ich nehme ihn kaum auf. Ich zu bin müde, hungrig, und einfach genervt, dass ich bei Rodjonnow antreten muss. Entsprechend laut hallen meine Schritte auf den Stufen. Hinter der Tür des Vorzimmers hämmert die Sekretärin in die Tasten ihrer Schreibmaschine. Einmal klopfe ich kurz an, trete ins Vorzimmer ein. Das Geklapper verstummt, sie blickt auf.

 »Der Genosse Kommandeur erwartet Sie«, sagt der Adjutant, erhebt sich von seinem Platz am Schreibtisch gegenüber der Sekretärin, und führt mich zu Rodjonnow.

Ich bliebe an der Umrandung des Perserteppichs stehen, salutiere dem Kommandeur. Der rutscht zurück, erhebt sich. In seinem Mundwinkel bewegt sich ein trockener Zigarillo, als er sagt: »Treten Sie nur näher, Kalvaitis. Ich habe einen Marschbefehl für Sie. Damit melden Sie sich umgehend im Wehrkreiskommando. Dort wird man Ihnen alle weiteren Order erteilen.«

Wehrkreiskommando? Marschbefehl? Ich kann ihm nicht folgen. Doch der Zusammenhang mit der Beerdigung meines Vaters und diesem ominösen Marschbefehl brennt sich in mein Denken. Werde ich deshalb versetzt? Wohin diesmal? Rodjonnow überreicht mir mehrere Dokumente, die den Stempel des Baltischen Militärbezirks und eine Unterschrift tragen. Ich nehme das arglistige Funkeln in Rodjonnows Augen wahr, bevor ich zu lesen beginne.

Dem Genossen Major Dovidas M. Kalvaitis wird ab dem 01. April 1981 die Ehre zuteil, das Kommando über den Luftwaffenstützpunkt in Faisabad, Sozialistische Republik Afghanistan zu übernehmen. Dafür hat er sich in der Militärpräfektur in Termes, Usbekische SSR, zu melden. Dieser Marschbefehl ist dem zuständigen Wehrkreiskommando vorzulegen …

 Ich lese schnell. Meine Gedanken rennen noch schneller. Afghanistan? Wozu das, hinterfrage ich den Sinn, aber es gibt keinen Sinn zu hinterfragen. Das Augenpaar in Rodjonnows Mondgesicht bestätigen mir nur eins: Nicht fragen. Gehorchen.

»Als ich erfuhr, dass der derzeitige Kommandeur versetzt wird, habe ich natürlich an Sie gedacht«, offenbart er mir, dreht seinen Zigarillo in den Händen und grinst mich schleimig an. Ich glaube ihm kein Wort. Aus jeder Silbe triefen Willkür und Verachtung heraus. »Wer, außer Ihnen, könnte ein Aufklärungsgeschwader befehligen, das an unserer Friedensmission in Afghanistan beteiligt ist?«

Inständig hoffe ich, dass ich mich mit meinem Wissen nicht verrate. Die Friedensmission dauert nun eineinviertel Jahre, ziemlich lang.

»Was ist? Wollten Sie sich nicht längst Ihre Beförderung verdienen, Kalvaitis?«, blafft mich Rodjonnow an, klemmt den Zigarillo wieder in den Mundwinkel, schraubt seinen Füller auf und reicht ihn mir. »Das ist Ihre Gelegenheit, sich zu beweisen. Sie werden siegreich und mit Orden geschmückt zurückkehren. Außerdem habe ich mich für Sie bei den Genossen von der GRU eingesetzt. Ihnen hätte Schlimmeres blühen können. Also unterschreiben Sie.« Eine Stichflamme lodert aus dem Zigarillo, als er ihn ansteckt.

Bereits in der „Himmel, Erde, Schnee“-Dilogie kam ich am Thema Afghanistankrieg nicht vorbei. Erst recht nicht im „Sternenstürmer“, und ich halte es für wichtig, diesem Land und seinem Schicksal wieder mehr Beachtung zu schenken. Nach den erschütternden Bildern, die im August 2021 in unsere Wohnzimmer drangen, war es eine Frage der Zeit, bis andere Themen, Kriege und Krisen sie erneut aus dem aktuellen Bewusstsein drängen würden. Ich hoffe, dass ich durch diesen Roman wieder das Interesse wecken und zum Nachdenken anregen kann.

Mich bewegt bei diesem komplexen Thema, und daher der Umfang des „Sternenstürmers“, dass 1979 die Szenarien an der sowjetisch-afghanischen Grenze dem Aufmarsch an Panzern und Militär an der russisch-ukrainischen Grenze im Januar/Februar 2022 gleichen. Auch die Art, wie Moskau versucht(e), die Welt über seine wahren Absichten zu täuschen, ist die gleiche: Leugnen. Danach wird zugeschlagen und versucht, die Führung des jeweils anderen Landes abzusetzen und auszutauschen. Vor allem aber: Es ist kein Krieg. Es ist eine Mission. Erst unter Gorbatschow wurde von einem Krieg in Afghanistan gesprochen und offiziell zugegeben, dass sowjetische Soldaten starben.

Im „Sternenstürmer“ erkennt Dovidas bald, in was er als Kommandeur einer Luftwaffenbasis hineingeraten ist. Immer wieder gerät die Basis unter Beschuss der afghanischen Rebellen, mit Stinger-Raketen, die sie von den Amerikanern bekamen. Bei seiner vorübergehenden Rückkehr in die Heimat darf Dovidas nicht von einem Krieg sprechen, doch es genügt ein Silvesterfeuerwerk, um ihn zurück nach Faisabad zu schicken. Er wird eine Veränderung von dem lebenslustigen, netten jungen Offizier zum traumatisierten, von allen möglichen Substanzen abhängigen Haudegen durchleben. Kein stromlinienförmiger Protagonist, sondern ein gefallener Held, der mit seinen Verwundungen klarkommen muss.

Lucija als Dozentin gerät an der Universität in Berührung mit einem Dissidentenzirkel, den ihr ehemaliger Kommilitone anführt. Sie weiß, dass Dovidas in einem Kriegseinsatz ist und möchte ihn natürlich lieber heute als morgen wieder an ihrer Seite haben. Aber sie weiß auch um die Gefahr, die heimliche Treffen und Untergrundschriften mit sich bringen, nicht nur für sie.

Inzwischen bin ich im Jahr 1983 angelangt und vor mir liegt noch ein Stück auf der B-Seite. Das Epos geht weiter, stets mit Blick auf die Gegenwart.

Veröffentlicht von autorinirahabermeyer

Autorin Cold War Fiction-Romane

2 Kommentare zu „Die A-Seite und die B-Seite – Making Of Sternenstürmer #4

  1. Sehr interessant zu lesen. Ich versuche mich als Autor, habe aber noch nichts offiziell veröffentlicht. Und mein erstes Buch sind gewissermaßen zwei zusammengeflanschte Teile, die auch ein bisschen was mit einem neuen kalten Krieg in der Zukunft zu tun haben 🙂

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