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Dies ist ein Special zum heutigen Vatertag. Die meisten meiner Protagonisten sind Väter und sind mehr oder minder stark in ihrer Rolle. Eine meiner dominantesten Vaterfiguren ist Pranas Tarvydas, Rasas Vater und eine wichtige Nebenfigur in der „Eis und Bernstein“-Saga.
Als Milizchef von Kaunas ist er düster und geheimnisvoll und leicht misanthropisch. Die junge Rasa (nicht ganz so jung wie das Mädchen auf dem Beispielbild) erlebt ihn als streng und liebevoll zugleich. Da sie die jüngste Tochter ist, bedeutet sie ihm besonders viel. Aber eines will der missmutige Haudegen Pranas sicherlich nicht: Dass sie wie er zur Miliz oder gar zum KGB geht. Er will das Beste für Rasa, nämlich, dass sie Beamtin wird.
Am Vorabend ihrer Abreise nach Vilnius nimmt Pranas sie mit zum Angeln, wo sie ihn oft begleitet hat …
KAUNAS, LITAUISCHE SSR, IM AUGUST 1981
SANFT GLITTEN DIE RUDER in die träge Strömung des Nemunas. Gerade noch hielt sich genügend Helligkeit, so dass Rasa das Gesicht ihres Vaters erkennen konnte. Über dem Buchenhain, der zum Ufer hin abfiel, sank die Sonne als glühender Ball und hauchte die tief im Himmel hängenden Wolken rot an. Pranas Tarvydas hob beide Ruder, einzelne Wasserperlen tropften zurück in den Fluss. Das Boot trieb langsam mit der Strömung, die Wellen schaukelten es unmerklich der Sandbank entgegen. Noch einmal stieß Pranas das Ruder am Grund ab. »Nimm«, sagte er. »Steuer du das Boot zu unserer Stelle.« Rasa umfasste die Griffe, in ihren Fäusten lag das mit den Jahren dunkel gewordene glatte Holz. Sie fing den Blick ihres Vaters auf, graue Augen, die im schwindenden Licht der hereinbrechenden Nacht der Farbe des Himmels glichen. Tief über der Wasseroberfläche am seichten Ufer schwebten Schwalben, um in ihrem geschickten Flug zu trinken. Wie die Schwalben schweiften Rasas Gedanken ab, landeten auf dem nächsten Tag. Ein nervöses Kribbeln erfasste sie, senkte sich schwer zwischen ihren Rippen. Mit Aufregung und Vorfreude zugleich dachte sie an Vilnius, an die Fachschule und an die Arbeit, die sie neben ihrer Ausbildung zur Beamtin beginnen würde. Um sich nebenbei etwas Geld zu verdienen, zu sparen, und auch ihrer Schwester Julija – mehr ihrem Mann Antanas – den Anteil für die Unterkunft in ihrer Wohnung zuzuschießen. Ihre Cousine Kotrina lebte bereits seit ihrer Jugend in Vilnius, noch jemand, den sie kannte. Pranas widmete Rasa einen beschwichtigenden Blick, erriet wohl ihre gemischten Gefühle. Dabei zuckte sein gepflegter blonder Schnauzbart. »Du bist unsicher, was dich in Vilnius erwartet, nicht wahr?« »Ja und nein.« Sie seufzte, betrachtete den dunklen Fluss. Ein erstes gelbes Blatt trieb auf der leichten Strömung. »Natürlich bin ich aufgeregt, was mich am ersten Tag auf der Fachschule erwartet. Aber dass ich bei Julija und Antanas wohne, gibt mir Sicherheit. Ich kenne Vilnius nur von den Besuchen und unseren Ausflügen.« Das Blatt wurde von einem der kleinen Strudel eingesogen, blieb eine Weile unter Wasser, ehe es einige Meter weiter stromabwärts wiederauftauchte. »Genauso wie Valdas. Ich weiß nur, dass er uns zuletzt vor zwei Jahren besucht hatte.« Rasa wandte sich wieder ihrem Vater zu. »Da er so etwas wie ein Sohn für mich ist, ließ er sich nicht zweimal bitten, dir die Stelle in seinem Kombinat zu geben. Er meinte, es täte dir gut, neben deiner Ausbildung ein paar Rubel zu verdienen.« Pranas beugte sich vor, zog die Angelrute unter den Bänken heraus. »Er ist mir noch einen Gefallen schuldig.« »Welchen Gefallen, Tevas?« »Das ist lange her, November Einundvierzig.« Er straffte die Schnur. »Der Abend dämmerte bereits, in der Luft lag der Geruch des ersten Schnees. Ich zog mit dem Partisanenregiment weiter, wir wussten, dass die Deutschen uns bereits voraus waren. Du weißt, ich war Partisan.« Sein Blick streifte den Himmel, ruhte wieder auf Rasas Gesicht. »Ja, Tevas, das weiß ich«, sagte sie, verdrehte die Augen. »Ich habe diese Geschichte mindestens dreißig Mal gehört.« »Dann erzähle ich sie dir das einunddreißigste Mal«, entgegnete Pranas, fuhr fort: »Es war ein kalter Tag, der Wind fegte über die Waldlichtung, der Boden war gefroren und die Hufe unserer Pferde hinterließen ein hohles Geräusch auf der Landstraße. In der Dämmerung trauten wir uns aus unseren Verstecken, um voranzukommen.« Er sah sie an, als ordnete er seine Erinnerungen. »Ich hörte den Wind im trockenen Schilf, er klang wie ein wehmütiges Lied. Hätte sich nicht das letzte Abendrot so beeindruckend schön auf der dünnen Eisschicht des Wassergrabens gespiegelt, wäre ich nie auf das kleine dunkle Bündel an der Böschung aufmerksam geworden. Ich reckte den Hals, spähte zwischen die Zweige einer Trauerweide. Was war es wohl?« Seine Wimpern zuckten, als betrachtete er erneut das Knäuel zwischen Schilf und herabhängenden Weidenzweigen. »Es bewegte sich. War es ein Tier? Ein Wildschwein, oder gar ein altersschwacher Wolf? Ich gab den Männern ein Zeichen, fasste nach meinem Gewehr und hielt das Pferd an, um abzusteigen. Vorsichtig pirschte ich mich an. Das Bündel regte sich, hob den Kopf. Ich schaute in die großen schwarzen Augen eines kleinen Jungen. In ihnen lag so viel Angst und Traurigkeit, dass mir klamm ums Herz wurde.« Erneut sah Rasa das Bild vor sich, das ihr Vater beschrieb, und fügte es zusammen. Das Kind aus den Sümpfen wurde zu dem dunkelhaarigen Mann, der auf dem Sofa im Wohnzimmer ihres Elternhauses saß, Kaffee mit einem Schuss Cognac trank und ihr und Julija die mitgebrachten Pralinen anbot. »Der Junge war Valdas, lass mich raten.« »Ja«, antwortete Pranas. Mit einem unterdrückten Seufzer wanderte sein Blick zu den Wolkengebilden im Himmel. »Ein jüdisches Kind, das auf einem der Todesmärsche den Deutschen entkommen war. Er hatte seine Familie verloren, war aber für sein Alter ziemlich schlau. Du weißt, dass die Faschisten die Litvaks, die Juden, umgebracht haben. Einige haben überlebt, wie Valdas.« »Weil du ihn gerettet hast.« »Möglicherweise wäre er verhungert oder erfroren, wenn ich ihn nicht gefunden hätte. Trotz aller Schlauheit ist ein kleines Kind auf Erwachsene angewiesen«, fuhr er fort. »Wir nahmen ihn mit und brachten ihn bei der Familie deiner Mutter unter. Sie versteckten ihn auf dem Hof, ich sah immer wieder nach ihm, wie er heranwuchs. Dieses Leben im Geheimen schweißte uns zusammen.« Während sie die Heimlichkeit und die Beklemmung nachempfand, betrachtete Rasa das Birkenblatt, das mit der Strömung trieb. »Als wir mit Hilfe der Roten Armee die Deutschen besiegt hatten und der Krieg vorbei war, holte ich Valdas nach Kaunas.« Pranas suchte nach einem passenden Köder, eine silbrig gemusterte Feder. Er betrachtete sie scharf, atmete lange aus. Dabei wogte der feine Flaum der Feder. »Ich kam in der Miliz unter, Litauen brauchte junge Männer wie mich, die keine faschistische Vergangenheit hatten. Schließlich heiratete ich deine Mutter, und sie musste die Tatsache hinnehmen, dass ich ein Kind mit in die Ehe bringe. Begeistert war sie nicht davon, anscheinend war ihre Liebe doch größer. Dann kam Gediminas auf die Welt, und Julija.« Wie ihre Mutter Valdas behandelt haben mochte, malte Rasa sich aus. Viel Liebe hatte sie ihr nie gezeigt. Je älter Laima wurde, umso mehr schien sie sich an ihren Mitmenschen zu stören und zog sich nach der Arbeit zurück. Immer häufiger blieb sie zu Hause, sagte, sie sei krank. Gäste empfing sie nur widerwillig – und um einen Grund zu finden, sich zu betrinken. Das Kochen und den Haushalt übernahm inzwischen Rasa. Ihr wurde wieder deutlich bewusst, warum sie gerne von hier wegging, dieses Haus verließ und sich der finsteren Miene ihrer Mutter entzog. Hinter einem Wolkenfetzen machte sie den aufgehenden Mond aus. Prall und orange glimmend wirkte er wie ein reifender Kürbis, spiegelte sich auf dem Fluss. Sie hob ihren Blick, betrachtete ihren Vater. Mit seinem verstümmelten befühlte Daumen Pranas die gestutzte Feder am Haken. Das Fischen war seine Lieblingsbeschäftigung, wenn er vom Dienst als Milizchef zurückkehrte. In seiner Freizeit fertigte er selbst die Köder aus Federn an, die er in den Flussauen und bei seinen Streifgängen fand. Geschickt benutzte er dabei Messer und feinen Draht. Rasa nahm die entspannten Gesichtszüge wahr, der Abendwind strich durch seine Haare, deren dunkles Blond dem Grau eines sechzigjährigen Mannes wich. Pranas fasste in die Köderdose. Ein glitschiger Wurm wand sich um die fehlende Kuppe seines Daumens, wehrte sich gegen die tödliche Spitze des stählernen Hakens. Seitdem sie sich erinnern konnte, war die linke Hand ihres Vaters entstellt. Quer durch die Handfläche zog sich eine tiefe, helle Narbe und das erste Glied seines Daumens fehlte. Als sie ihn einst gefragt hatte, was ihm zugestoßen sei, hatte er erklärt, er habe einen Faschisten fassen wollen. Der Mann habe einen Offiziersdegen aus den Zeiten der bürgerlichen Republik gegen ihn erhoben und mit der Klinge seine Hand zerteilt, dafür sei er in den Gulag gekommen. Diese Geschichte hing anscheinend mit Valdas Grinfeldis zusammen, den er hatte ausbilden wollen, damit auch er zur Miliz ging. »Nach seinem Wehrdienst wurde Valdas aber für die Technische Universität empfohlen«, fuhr Pranas leise fort. »Er war wohl froh, dass er seine Begabungen ausleben konnte.« Mit einer schwungvollen Bewegung holte er die Angelrute aus, die Schnur samt Haken und Köder versank im dunklen Wasser. »Er machte einen guten Abschluss in Mathematik, heiratete und wurde Leiter von Elektronika.« »Wo ich arbeiten werde«, ergänzte Rasa, den Kreisen folgend, die die ausgeworfene Angelschnur weiterhin formte. »Eine bemerkenswerte Lebensgesichte. Valdas Grinfeldis, meine ich.« Zustimmend nickte ihr Vater, dann verfiel er in jenes geheimnisvolles Schweigen, das ihr bedeutete, ebenfalls abzuwarten. Fast unsichtbar trieb die Angelschnur mit der Strömung. Sie kannte diesen angespannten Gesichtsausdruck, der sich erst dann lockerte, sobald ein Fisch anbiss. Beim Angeln hatte sie Geduld gelernt. Unmerklich atmete sie ein und aus, lehnte sich gegen die Holzwand des Kahns, hielt ihn gelegentlich auf Kurs, und folgte dem langsam wandernden Mond im nachtblauen Himmel. Das fließende Licht des Vollmonds und der Kegel der Taschenlampe, die Rasa hielt, streiften die Stelle, in der die Schnur sich bewegte. Und wie sie sich bewegte! Ruckartig zog sie etwas Kräftiges nach unten, während sich die Angelrute in Pranas’ Hand bog. »Da hat was angebissen!«, rief er, wandte sich ihr zu. »Schnell, den Kescher!« Rasa tastete nach dem Stiel des Keschers, holte ihn unter der Bank hervor, streckte ihn aus. Pranas stand auf, stemmte sich breitbeinig gegen die Innenwände des Kahns, hielt mit beiden Händen die Angel. Am anderen Ende wehrte sich der Fisch, dessen Kopf aus dem Wasser auftauchte. Er verbiss sich noch mehr am Haken, während er mit Pranas kämpfte. Mit angehaltenem Atem beobachtete Rasa das Ringen zwischen ihrem Vater und dem Tier, sein Auge glänzte silbern im Mondlicht. Abrupt zerrte Pranas einen mehr als halben Meter langen Fisch aus dem nachtschwarzen Wasser, sein Körper wand sich über der Oberfläche hin und her. Rasa hielt das Netz unter die schlagende Schwanzflosse, beförderte ihn in den Kahn. Das Gewicht des Fisches musste Pranas’ Kräfte beanspruchen, als er das zappelnde Tier vom Haken löste. Platschend fiel der Fisch auf die Planken, schnappte mit seinem riesigen Maul. Dabei zeigte er seine scharfen, gebogenen Zähne, ähnlich einer giftigen Natter. Drohend stellte er seine Rückenflosse zu einem grünroten Fächer auf. Damit erinnerte er an einen wütenden Drachen. Sein glitschiger Körper zuckte, schlug auf Rasas Füße. Pranas tauschte einen einvernehmlichen Blick mit ihr aus. Sie nahm den Knüppel, zielte und erledigte den Fisch mit einem gezielten Schlag auf den Hinterkopf. Noch einmal bewegten die Muskeln den grünschwarz gemusterten Körper, dann gab er mit seinem weit aufgerissenen Drachenmaul seinen Kampf für immer auf.