Auch dieses Jahr lädt Gabi Büttner uns Autor*innen wieder dazu ein, unseren Protas ihre Hintergründe zu entlocken. Dieses Jahr stelle ich Lucija und Dovidas aus „Sternenstürmer“ vor. Im Oktober erscheint mein neuer Roman, der gleichzeitig Teil 4 der Cold War Fiction-Reihe ist. Nachdem ich erst kürzlich aus den Baltischen Staaten zurückgekehrt bin, sind auch meine Eindrücke noch sehr frisch und die Inspirationen verleihen den letzten Arbeiten an „Sternenstürmer“ einen besonderen Antrieb.
Doch die Stadt Klaipėda – auf Deutsch Memel – , woher Dovidas stammt, ist noch vom Graustich des Sowjetimperiums überzogen, als ich im September 1989 die beiden in der Laube vor seinem Elternhaus treffe. Bunt dagegen leuchten die Flaggen des nach Unabhängigkeit strebenden Litauens an den Fassaden der Gebäude, und auch in der Halterung neben der Haustür schwingt die gelb-grün-rote Fahne im Wind, der von der nahen Ostsee über den Rand der Düne streift. Im Vorgarten glimmen die letzten Gladiolen. Die Sonne, die immer wieder zwischen die Wolken spitzt, täuscht. Um nochmals ein Bad in der Ostsee zu nehmen, ist es in diesen Breiten inzwischen zu frisch.

Also überrascht es mich nicht, als Dovidas sagt: »Ist heute nicht ein schöner Herbsttag?«
Vielmehr überrascht mich, dass er eher von einer zierlichen Statur ist, und auf den ersten Blick nicht wie der Afghanistan-Haudegen wirkt, dessen Ruf ihm vorauseilt. Allgemein wirken er und Lucija sehr entspannt. So gastfreundlich wie immer, wenn ich in Litauen eingeladen werde, empfangen mich die beiden. Auf dem Tisch steht eine Napoleon-Torte, sein Lieblingskuchen, und Lucija hat Kaffee gebrüht.
»Du möchtest sicher, dass deine Leser mehr über uns erfahren«, bemerkt Lucija und blinzelt in die Sonnenstrahlen. Ihre grünen Augen haben eine leicht schräge Form und verraten ihre tatarischen Wurzeln.
»Sollten wir uns nicht zunächst vorstellen?«, bedenkt Dovidas, streicht die leicht gewellte, kupferrote Strähne zurück, die ihm der Wind in die Stirn weht. »Wer fängt an?«
Lucija lächelt zögernd, sieht ihn auffordernd an. Doch als er ihr mit einer Geste signalisiert, dass sie beginnen kann, erzählt sie: »Ich bin Lucija, und mein Mädchenname lautet Noreikaitė. Bereits mein Vater war Pilot, doch das ist eine andere Geschichte. Ich bin 1953 in Vilnius geboren, habe Philosophie studiert und bin Dozentin an der Universität. Außerdem bin ich in unserer Unabhängigkeitsbewegung Sąjūdis aktiv.«
Als Lucija ihr politisches Engagement erwähnt, verkneift sich Dovidas ein Lächeln. Nicht, dass er als hochrangiger Offizier der sowjetischen Luftstreitkräfte sie nicht unterstützen würde – ich vermute, er hütet seine Gedanken wohl.
Nun ist er an der Reihe. »Ich bin 1947 hier in Klaipėda geboren, und kann mich erinnern, dass ich mit meinen Eltern und meiner Schwester in dieses Haus zog. Zu dem Zeitpunkt war noch eine andere Familie darin untergebracht, und die Verhältnisse waren sehr beengt und die Stimmung spannungsgeladen. Nach dem Krieg war Wohnraum knapp und die Sowjets teilten einfach zu, was verfügbar war. Später bekam die andere Familie wohl eine eigene Wohnung«, erzählt Dovidas. »Als ich nach der 10. Klasse die Mittelschule absolvierte, begann ich eine Lehre in einer Fabrik. Auch das entschied die Partei. Mit 18 erhielt ich meinen Einberufungsbescheid und kam zur Luftwaffe. Bei uns dauert die Wehrpflicht drei Jahre. Doch einer der Offiziere erkannte, dass mehr in mir steckte, als nur die MiG-Jäger instand zu setzen und empfahl mich für eine Ausbildung zum Piloten. Für mich kam es einer Katastrophe gleich, als ich vor vierzehn Jahren bei einem Sehtest durchfiel und nicht mehr flugtauglich war. Also wurde ich nach Vilnius versetzt. Aber das Schicksal meinte es mir gut.« Er legt den Arm um Lucija und drückt sie an sich. Doch das klare Stahlblau seiner Augen trübt sich leicht, als er fortfährt: »Vor zehn Jahren mischten wir uns in Afghanistan ein, und dank der Intrige meines Kommandeurs wurde ich nach Faisabad geschickt. Dort hatte ich den Befehl über eine Fliegerbasis …« Nachdenklich seufzt er, rührt geräuschvoll Zucker in die Kaffeetasse.
An Lucijas gekräuselten Brauen erkenne ich, dass sie nicht weiter auf das Thema Afghanistan eingehen möchte. Dafür kann Dovidas in »Sternenstürmer« von seinem Kommandoposten am Hindukusch und seinen Schlachten mit den Warlords erzählen.
»Um die Truppe zu motivieren, veranstaltete ich Heimatabende, und gemeinsam mit einem Kameraden dichtete ich ein Lied auf Litauen. Ich spielte es auf der Klarinette und er sang es«, schwelgt er trotzdem in den Erinnerungen, die nicht nur von Raketenangriffen und Gegenattacken bestimmt sein müssen.
Und ich merke ihm an, dass er sich für Musik begeistert. Ich weiß, dass er vor allem die italienischen Opern liebt. Ob das bei ihm bereits seit der Kindheit so war, frage ich ihn.

»Als Kind konnte ich mich stundenlang mit dem Zeichnen beschäftigen«, verrät Dovidas. »Ich beobachtete meine Umgebung und brachte sie zu Papier, wie etwa den Sputnik, der als erster Satellit ins All geschossen wurde. Aber ich erschuf auch meine eigenen Welten.« Als er seine Kaffeetasse ansetzt, fällt mir das verblasste, tintenblaue X zwischen dem Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand auf. Ob seine künstlerische Begabung auch in Richtung Tätowierungen ging und dies ein kleiner, schmerzhafter Versuch war? Ich weiß, dass Dovidas‘ cholerischer Vater dafür verantwortlich ist. »Nebenbei lernte ich, Klarinette zu spielen und entdeckte die Opern und die Musik im Allgemeinen für mich. Sie lenkte mich auch in schweren Zeiten ab, und ich spiele noch immer, wenn mir in meiner freien Zeit danach ist.«
»Was begeisterte dich als Kind, Lucija?«, frage ich sie, die aufmerksam zugehört hat.
»Meine Schwester und ich bauten uns im Wohnzimmer der elterlichen Wohnung Höhlen hinter den Gardinen. Einmal waren sie Unterwasserwelten, dann Forschungsstationen auf fremden Planeten«, antwortet sie und lacht. »Das war unsere Beschäftigung im Winter. Im Sommer, wenn wir drei Monate lang Schulferien hatten, spielten wir im nahegelegenen Wald. Wir waren sehr viel in der Natur und mit unseren Fahrrädern unterwegs, und langweilten uns kaum. Selbstverständlich liebte ich auch zu lesen, denn den Fernseher bekamen wir erst später und das Programm ist nur ein paar Stunden am Tag auf Sendung.«
Selbst in dem Jahr 1989, das ich erlebte, waren nur wenige Stunden Sendebetrieb unvorstellbar, doch ich bin in die noch existierende Sowjetunion gereist. Ich nehme einen Schluck Kaffee, auch der ist anders, doch ich kenne die Art, ihn zu brühen von meinen ersten Besuchen in den Baltischen Staaten nach der Wende: Zwei Löffel Kaffeepulver werden mit kochendem Wasser überbrüht und nach Belieben wird Zucker oder Milch beigefügt. Noch immer ist mein Kaffee so heiß, dass ich hoffe, der frische Wind möge ihn ein wenig abkühlen, und ich spüre die Krümel des Pulvers auf meiner Zunge. Dafür schmeckt er ziemlich kräftig.
»Erinnert ihr euch an besondere Traditionen in euren Familien?«, will ich wissen, denn das Leben jenseits des Eisernen Vorhangs interessiert wohl auch meine Leserschaft brennend.
Verschwörerisch sehen Lucija und Dovidas einander an. »Kučios!«, kommt es beiden fast gleichzeitig über die Lippen, und es klingt wie ein Geheimcode. Dabei meinen sie das litauische Weihnachtsfest.
»Bis vor zwei Jahren war es verboten, religiöse Feste zu feiern«, erklärt Lucija. »Doch meine wie auch Dovidas‘ Eltern stellten heimlich den Weihnachtsbaum auf, der jeweils weitab von Fenstern in Ecken stand. Bei uns wird es im Dezember bereits ab halb vier Uhr nachmittags dunkel, also konnten wir die Vorhänge zuziehen. Abgesehen vom Teilen der Hostie, sobald der erste Stern aufgeht und das Festessen beginnt, ist die Tradition in meiner Familie die Karpfenterrine nach Noreika-Art. Meine Mutter machte sie, und nun ist sie bei uns fester Bestandteil an Heiligabend, Kučios eben.«
»Wie bald wird der Winter wieder ins Land ziehen, und unser Herbst ist kurz, aber farbenprächtig«, meint Dovidas und blinzelt der Sonne entgegen, die zwischen den dahintreibenden Wolken durchblitzt. Oder betrachtet er die Möwe, die akrobatisch und kaum mit ihren ausgebreiteten Schwingen mit dem Wind durch den Himmel gleitet? »Vielleicht gehen wir noch an den Strand? Dort habe ich meine Kindheit verbracht«, fordert er mich und Lucija auf und erhebt sich.
Mit den beiden durchquere ich die betonierte Einfahrt, in der Dovidas‘ schwarzglänzender Wolga geparkt ist. Als wir an einem Sanddornbaum vorbei über einen schmalen Pfad durch die Dünen gehen, bin ich dankbar um den leichten Mantel. Beeindruckend brandet die Ostsee an den Strand, mit dem sommerlichen Treiben der Badegäste ist es nun endgültig vorbei. Lucija schlingt ein Seidentuch um ihren Kopf, damit sich der Wind nicht zu sehr in ihren braunen Haaren verfängt.
»Nach den Unwettern, die Ende August den Sommer beenden, wird Bernstein angespült. Ich kann dir die Stellen zeigen, an denen man viel davon finden kann«, erzählt Dovidas und zeigt auf eine Senke, in der sich auch Treibgut und vertrocknetes Seegras angesammelt hat. Bernstein gehört wohl zu den Dingen, die seine Kindheit am Meer begleitet haben.
»Was habt ihr von euren Eltern gelernt?«, frage ich die beiden, während wir den Strand entlang spazieren.
»Dass man einander achten, wertschätzen und lieben kann, selbst wenn man seit vielen Jahren verheiratet ist«, antwortet Lucija und wird ein wenig nachdenklich. »Jeder Tag ist wertvoll, und es wäre schlimm, wenn man im Streit auseinandergehen würde und keine Gelegenheit mehr hätte, sich zu versöhnen.« Sie scheint wohl genau zu wissen, wovon sie spricht, und ich bin mir sicher, dass nicht immer eitel Sonnenschein zwischen ihr und Dovidas herrscht.
»Ich habe von meinem Vater gelernt, wie man seine Frau und Kinder nicht behandelt«, verrät er. Kurz schweift sein Blick auf die brandenden Wellen, dann sagt er stolz: »Von meiner Mutter habe ich das Singen gelernt – und zu meinen Wurzeln als Litauer zu stehen.«
Heute mag die Betonung auf die Nationalität Befremdung auslösen, doch in Zeiten, als die jeweiligen Kulturen der Sowjetmacht unterworfen werden sollten und viele Lieder, Feste, Symbole und Farben verboten waren; als bevorzugt Russen in wichtigen Funktionen eingesetzt wurden, ging es um Selbsterhalt. Im Jahr 1989 sehe ich die unzähligen Fahnen und ich wundere mich nicht, warum die Litauer, genauso wie die Letten und Esten, ihre Unabhängigkeit fordern. So viel zur politischen Lage, die Lucija wohl am besten erklären kann.
Aber darum geht es hier nicht. Dass sie an der Universität Philosophie lehrt, hat sie erzählt. Wie haben beide zu ihren Berufen gefunden?
»In der Schule war ich ein stilles Mädchen, das sich heimlich Gedanken über das Sein machte, anderen zuhörte, und literarische Werke interpretierte. Literatur ist bei uns ein Schulfach, genauso wie Staatsbürgerkunde«, erzählt Lucija. »Natürlich musste ich immer aufpassen, nichts in die Texte russischer Dichter und Schriftsteller wie Maxim Gorkij hineinzuinterpretieren, was gegen die Linie verstieß. Ich wurde von meinem Klassenlehrer und dem Parteisekretär für ein geisteswissenschaftliches Studium empfohlen. Danach wurde ich zunächst die Assistentin meiner Dozentin, bis ich schließlich selbst Philosophie lehren konnte.«
Ich stelle mir Lucija vor, wie sie am 1. September, wenn die Semester beginnen, in ihrem Talar den Hörsaal betritt und nach dem ersten Tag gemeinsam mit ihren Kollegen und Studenten durch die Stadt zieht. Dass sie sich für einen anderen Beruf entscheiden würde, könnte sie nochmals neu anfangen, bezweifle ich.
Und Dovidas? »Dürfte ich nochmals neu anfangen, würde ich ebenfalls studieren, oder Musiker werden«, antwortet er. »Aber die Entscheidungen, wer welchen Beruf ausübt, Handwerk oder Studium, oder was seinen Neigungen und Fähigkeiten entspricht, traf man bis vor Kurzem nicht selbst. Sondern ein Parteisekretär, wie Lucija erwähnte.« Doch ganz unglücklich über seine Offizierslaufbahn wirkt er nicht, im Gegenteil, er scheint nach etwas Höherem zu streben.
Vielleicht haben beide ihre langjährigen Wegbegleiter. »Seid ihr noch mit Personen aus eurer Kindheit befreundet?«, frage ich. »Wie lange und woher kennt ihr eure besten Freunde?«
»Tatsächlich ist meine jüngere Schwester Reta meine beste Freundin«, erklärt Lucija, hält das Lächeln, das der besonderen Beziehung der beiden Schwestern gilt und blinzelt etwas befangen zu Dovidas. Sie druckst ein wenig, doch dann fährt sie entschieden fort: »Mein bester Freund ist Kaziukas, und wir kennen uns seit unserem Erstsemester.«
Etwas ungehalten raunt Dovidas ihr etwas auf Litauisch zu. Ich verstehe nur einige Worte, die die beiden lebhaft austauschen, und mir ist klar, dass er der langen Freundschaft zwischen Lucija und Kaziukas misstrauisch gegenübersteht. Doch sie gibt sich gelassen, beschwichtigt Dovidas wieder.
»Jetzt erzähle du lieber von deinem besten Freund!«, fordert Lucija ihn auf.
Etwas überlegen grinst er, bis er antwortet: »Wlad und ich sind seit der Grundausbildung miteinander befreundet. Als dieser Junge, und er sah damals noch sehr kindlich aus, am ersten Tag die Stube betrat, war mir klar, dass ich auf ihn aufpassen und ihn führen musste. In unseren Streitkräften sind noch immer Schikanen und Misshandlungen seitens der Offiziere an der Tagesordnung, und sie suchen sich die Soldaten aus, die schwach oder unsicher erscheinen. Ich bin selbst nicht gerade groß und ich war in meiner Jugend keiner der Schläger, die ihre Herrschaft über die Stadtteile sicherten«, fährt Dovidas fort, und ich verstehe, dass auch er Opfer seiner Vorgesetzten hätte werden können, »aber ich machte Wlad vor, dass man sich nur durch absolutes Funktionieren und Auswendiglernen schützt, und man am besten keine Schwäche zeigt. Ich sortierte ihm nicht nur den Spind ein, sondern rettete ihm einmal sogar das Leben. Wir sind bis heute miteinander befreundet.«
Was sie – Dovidas als Litauer und Wlad(imir) als Russe – hoffentlich in diesen bewegten Zeiten bleiben werden.
Ich verbringe noch einige Zeit mit Lucija und Dovidas, doch dann lasse ich sie an ihrem Wochenende an der Ostsee für sich sein. Nächste Woche treffen wir uns wieder.